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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
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heute geradezu legendär waren. Ob sie sich auch an ihn erinnerte, war sich Paul nicht sicher.
    Es dauerte fünf Minuten, bis er ein Taxi gefunden und es dorthin gelotst hatte, wo sie stand. Als er zu ihr lief und den Ausdruck in ihrem Gesicht sah, verunsichert, unkonzentriert, da wusste er, dass er mit ihr zum Bahnhof Paddington fahren und sich unterwegs für später mit ihr verabreden würde. Er sprach mit dem Fahrer, kam mit dem Schirm zu ihr zurück und geleitete sie zum Auto. »Das Blöde ist nur«, sagte sie, »ich weiß gar nicht, ob ich genug Geld für das Taxi habe.«
    »Ach!«, sagte Paul fast streng, »keine Sorge«, fragte sich aber, ob er sich das überhaupt leisten konnte. »Ich fahre mit Ihnen.« Mit stoischer Miene, als duldete er keine Widerrede, verfrachtete er sie in das Taxi, ging um das Auto herum und stieg auf der anderen Seite ein. Sie hätten etwa fünfzehn Minuten, rechnete er sich aus.
    Sie machten es sich bequem, ziemlich angespannt, der Fahrer schimpfte ununterbrochen über das abscheuliche Wetter, bis Paul ein Stück vorrückte und die Trennscheibe zuschob. Er schaute kurz zu Mrs Jacobs, ob sie damit einverstanden war, doch sie schien ihn in der aquariumartigen Trübnis der Kabine vorerst gar nicht zu beachten. Ihr weiches Gesicht sah in dem ständigen Wechsel von Schatten und Licht seltsam verhärmt aus.
    »Ich kann es noch immer nicht fassen, dass wir uns hier zufällig über den Weg gelaufen sind«, sagte Paul.
    »Ja, ich weiß …« Sie rang mit sich, zwischen Dankbarkeit, Verlegenheit und, so spürte er, Kränkung.
    Es roch nach Essen, von Fahrgästen vor ihnen, und die Sitze waren noch glitschig von ihren feuchten Kleidern. Paul knöpfte den Mantel auf, setzte sich schräg hin, ihr zugewandt, ein Bein angezogen, erwartungsvoll, aber zwanglos. Sie umgab die durchlässige Aura des Alters, sie war aufmerksam und abwesend zugleich. Ihre Tasche hatte sie auf die Knie gestellt, die behandschuhten Hände darübergelegt. Es war nicht dieselbe Tasche wie vor zwölf Jahren, sondern eine andere, nahe Verwandte, mit denselben Eigenschaften, unförmig und voluminös – eigentlich zu voluminös, um noch als Handtasche zu gelten. Ihr hilfloses Aufplustern war verräterisch. »Wie ist es Ihnen ergangen?« Er gab der Frage eine beflissene, unverbindliche Note. Corinnas Tod und Leslie Keepings Selbstmord mussten jetzt drei Jahre her sein.
    »Hmm, eigentlich ganz gut. Wenn man bedenkt … Sie wissen ja!« Ein trockenes Lachen, ganz wie in alten Zeiten, und auch die Angst und Geistesabwesenheit in ihrem Gesicht hatten sich erhalten. Sie wischte vergeblich das beschlagene Fenster neben sich sauber und sah hinaus, als wollte sie schauen, wohin sie fuhren.
    »Aber Sie leben nicht mehr in London? Ich glaube, als ich Sie das letzte Mal sah … wohnten Sie in Blackheath, oder?«
    »Ja, richtig. Ich bin umgezogen, ich bin wieder aufs Land gezogen.«
    »Fehlt Ihnen London nicht?«, sagte er freundlich. Er wollte herausfinden, wo sie wohnte, spürte jedoch bereits ihre Weigerung, es ihm zu sagen. Sie seufzte lediglich, spähte hinaus in die Welt hinter der regennassen Glasscheibe und rutschte ein Stück vor, um das Fenster einen Spalt aufzuziehen, doch wurde es durch das Stottern des Motors umgehend wieder zugeschoben. »Ich bin jetzt seit drei Jahren in London.«
    Sie zog das Kinn an. »Sie sind noch jung. Wenn man jung ist, ist London gut. Vor fünfzig Jahren hat mir London auch gefallen.«
    »Ja, ich weiß«, sagte Peter. Die Passagen in ihrem Buch über das gemeinsame Leben mit Revel Ralph in Chelsea hatten absurderweise seine eigenen Vorstellungen geprägt, was London ihm zu bieten hätte: Freiheit, Abenteuer, Erfolg. »Ich habe nämlich die Bank verlassen. Ich glaube, ich wollte schon immer Schriftsteller werden.«
    »Ach ja …«
    »Zum Glück kann ich sagen, dass es ganz gut für mich läuft.«
    »Das freut mich.« Sie lächelte nervös. »Sind Sie sicher, dass er uns auch wirklich nach Paddington fährt?«
    Paul ging zum Scherz auf ihre Frage ein, beugte sich ein Stück zur Seite und wischte einen Halbkreis auf seinem Fenster frei. Verschwommen erkannte er einen Pub in einem Eckhaus, eine Krankenhauseinfahrt, zuordnen konnte er beides nicht. »Alles in Ordnung«, sagte er. »Ja, ich schreibe jetzt Rezensionen. Vielleicht haben Sie vor ein paar Monaten meinen Artikel im Telegraph gelesen …«
    »Ich lese den Telegraph grundsätzlich nicht«, sagte sie, eher erleichtert als bedauernd.
    »Das kann ich

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