Fremden Kind
gezogen, das weiße Haar ragte zottelig darunter hervor. Um den Hals hatte sie ein rosa Tuch gebunden, ihr Regenmantel war abgetragen, der Kragen schmutzig schwarz. Er nahm den schwachen, modrigen Geruch wahr, den er verströmte, dann hatte er sie eingeholt und hielt seinen Schirm schützend vor sie. »Bitte schön!«
»Oh«, sagte sie. »Ein scheußliches Wetter, nicht?« Kurz musterte sie ihn im Weitergehen skeptisch, schien aber einigermaßen beruhigt.
»Sie sollten sich bei diesem Wetter nicht draußen aufhalten, Mrs Jacobs«, sagte er beherzt.
»Ich glaube, der Regen hat so gut wie aufgehört.«
Paul grinste, starrte sie geradezu an. »Wohin gehen Sie?« Er fühlte sich beschwingt von seinem Mut und seiner vielleicht nicht auf Gegenseitigkeit beruhenden Freude über diese Begegnung. Er passte sich ihrem Schritttempo an.
»Waren Sie auf der Party?«, sagte sie mit einem etwas rührseligen Blick, als schwelgte sie noch in der Erinnerung.
Bevor er es sich anders überlegte, sagte er: »Ja, aber ich hatte keine Gelegenheit, mit Ihnen zu sprechen.«
»Caroline hat so viele junge Freunde …«, erklärte sie es sich nachträglich selbst. Er merkte, dass sie einiges getrunken hatte – man klammerte sich an sein Glas auf solchen Partys und redete Unsinn; dann stürzte man sich nach draußen, ausgedörrt, benommen und am besten nicht allein. Während man getrunken hatte, war die Nacht angebrochen. Paul war direkt, wollte sie aber aus irgendeinem Grund noch ein bisschen länger auf die Folter spannen.
»Erinnern Sie sich an mich, Mrs Jacobs?«
Sie antwortete, als hätte sie lange geduldig auf diese Frage gewartet, und ohne ihn dabei anzusehen: »Ich weiß es nicht genau.«
»Warum auch!«, sagte er. »Wir haben uns seit gut zehn Jahren nicht gesehen.«
»Ach so, na dann«, sagte sie erleichtert, aber unverbindlich.
» Paul. Paul Bryant. Ich habe früher in Foxleigh in der Bank gearbeitet. Und ich war auf Ihrem … Ihrem großen Geburtstagsfest, damals, vor vielen Jahren.« Das war vielleicht nicht gerade taktvoll.
»Ach, tatsächlich?«, sagte Mrs Jacobs und stieß einen sonderbaren Seufzer aus, ein Grunzen – und Paul merkte es zu spät, wie ein Hindernis auf dem schwarz schimmernden Bürgersteig vor ihnen. Konnten sie sich jetzt noch weiter in dem zwanglosen Ton über die zweifache Tragödie unterhalten? Jetzt wäre vielleicht die Gelegenheit, Mitgefühl zu zeigen, ihr zu beweisen, dass er ihre Geschichte kannte und sie ihm vertrauen konnte. »Ja, richtig.«
»Es hat mir unendlich leidgetan, als ich das hörte … mit Corinna und …«
Sie blieb fast stehen, legte eine Hand auf seinen Arm, vielleicht in stillem Dank, aber es lag auch ein Tadel darin. Sie sah zu ihm auf. »Wären Sie so nett, mir ein Taxi zu besorgen?«
»Ja, selbstverständlich«, sagte Paul, durch diesen Wink mit dem Zaunpfahl in seine Schranken gewiesen, aber erleichtert, dass er sich nützlich machen konnte. Über ihnen ragte wuchtig und grau das neue YMCA auf, dahinter floss rauschend und glitzernd der Verkehr der Tottenham Court Road dahin. »Wohin wollen Sie denn?«
»Ich muss nach Paddington.«
»Oh, wohnen Sie nicht mehr in London?«
»Ich glaube, um zehn vor neun fährt ein Zug.«
Wieder klatschte Regen auf den Schirm. Sie standen am hell erleuchteten Eingang des YMCA, junge Männer strömten heraus, strotzten vor Selbstbewusstsein, setzten Kapuzen auf und stürmten los in die Nacht. »Wenn Sie hier warten möchten – ich versuche, ein Taxi zu bekommen.« Im Licht sah er deutlicher, wie verwahrlost sie war. Ihr Gesicht war von einer dicken Schicht Puder bedeckt und wirkte ausgemergelt und aufgedunsen zugleich. Ihre braunen Strümpfe und abgewetzten Pumps waren regennass. Die Zeit hatte ihre erschreckend elenden Spuren hinterlassen, und Paul beruhigte sich mit dem Gedanken, wer und was sie einmal gewesen war. Die glühenden und geschmeidigen Jungen, die aus dem Fitnessraum und der Sauna kamen, hatten ja keine Ahnung von ihrer Bedeutung. Er redete betont laut und zuvorkommend mit ihr, um ihnen zu zeigen, dass sie Respekt verdiente. Sie stammte aus der viktorianischen Zeit, hatte zwei Kriege erlebt und war – posthum, wenn man so will – die Schwägerin des Dichters, über den er ein Buch schrieb. Ihre natürliche Umgebung wäre ein englischer Garten gewesen, kein zugiger Durchgang auf der Tottenham Court Road. Gedichte waren für sie geschrieben und vertont worden. Sie hatte noch Erinnerungen an intime Verhältnisse, die
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