Fremden Kind
und glitt wie im Traum vorsichtig über die weiter oben gelegenen, schrägen Bleidächer; fünf Sekunden später folgte eine zweite, zögernd, doch entschlossen, dass man meinen könnte, in den tintenschwarzen Schatten mochten sich noch viel mehr verbergen. Sie waren merkwürdig altertümlich, die beiden Gestalten, von unbestimmter Größe, und schienen selbst wie ölig schimmern de Schatten dahinzufließen, in Schlafröcken, die wie Talare offenstanden. Sie schlichen von Schornsteinkasten zu Schornsteinkasten, bis zur höher gelegenen Schräge des Kapellendachs mit seiner krönenden Zinne, die über ihren Köpfen aufragte. Ein paarmal vernahm Peter sehr schwach das Trippeln oder Schlittern ihrer Pantoffelfüße.
4. Teil
So was wie ein Dichter
In seinem Nachlass fand Mrs Failing einige Sätze, die sie vor ein Rätsel stellten: »Ich sehe das stattliche Herrenhaus. Ich sehe das selbstgefällige Bollwerk der Kultur. Die Türen sind verschlossen. Die Fenster sind verschlossen. Doch auf dem Dach tanzen immerzu Kinder.«
E. M. Forster, The Longest Journey, Kapitel 12
1
D er Regen war nicht so schlimm, aber es wehte ein kräftiger Wind. Er hielt den Schirm schräg vor sich, sodass er ihm beinahe die Sicht nahm, als er um den Platz lief. In der Dunkelheit über ihm rauschten die Platanen, und große nasse Blätter fegten an ihm vorbei oder wurden willkürlich an seinen Mantel gedrückt. In der linken Hand trug er seine Aktentasche, schwarzes Leder, überzogen von Regenschlieren. Er hatte in der Bibliothek Gedichte gelesen, während das abendliche Publikum allmählich schrumpfte. Als der dunkelhaarige Mann, der R. Simpson hieß und offenbar eine Arbeit über Brownings Theaterstücke schrieb, seine Sachen zusammenpackte, war er ebenfalls aufgebrochen, doch am Haupteingang, im Platzregen, war Simpson nach rechts geeilt, während er in dem üblichen Gefühlsdurcheinander aus Trübsinn und Erleichterung zur U-Bahn gerannt war. Der Kampf mit dem Wetter beruhigte ihn seltsamerweise.
Nach Einbruch der Dunkelheit konnte man am Bedford Square durch die hohen Fenster im Obergeschoss in die Verlagsbüros sehen, Bücherregale an den Wänden und oft ein Haufen Gestalten im grellen Licht einer Party. So eine Party war auch jetzt im Gang; unten an der Haustür verabschiedeten sich einige Gäste, und das erleuchtete Rechteck erweiterte oder verengte sich, wenn sie lachend und über das Wetter schimpfend in die Nacht hinausschlüpften. Ein Paar kam heraus, die Köpfe gesenkt, dahinter sah er eine schmale Gestalt, eine alte Frau im Türrahmen, die sich ihren Mantel zuknöpfte, ihren Hut feststeckte, ihre Handtasche umhängte, auf den Bürgersteig trat und einen leichten Regenschirm aufspannte, den sich umgehend der Wind packte, hochriss und umstülpte. Ihre deutlichen Worte flogen ihm zu: »Oh, verdammt noch mal!« Er sah, wie sie sich mit dem Ding herumschlug, als er näher kam und sich sein eigener Schirm aufblähte und sich tapfer gegen den Wind wehrte. Die Frau torkelte leicht, bekam ihr Regendach wieder einigermaßen in den Griff und entfernte sich rasch, wäre beinahe gestolpert, nur eine Speiche stand spitzwinklig ab, das rosa Schirmtuch blähte sich, kurz Windstille, dann eine unerwartet starke Bö, die ihr den Schirm aus der Hand riss und auf die Straße wehte, über die er schlitterte, um in großen Hopsern zwischen parkenden Autos zu verschwinden. Er hätte ihr zu Hilfe eilen, dem Schirm hinterherrennen sollen, doch aus einer unbekümmerten praktischen Vernunft heraus schien sie die Sache schon aufgegeben zu haben. Sie drehte sich kurz um, ihre Brillengläser im Licht der Straßenlaterne zwei schimmernde Scheiben, dann duckte sie sich wieder gegen den Wind, der Sturm nur noch eine Art tosende Feuchtigkeit, und als sie weiterlief, spürte Paul plötzlich einen stechenden Schmerz, eine rasende Spannung. Sekundenlang versteckte er sich hinter seinem Schirm und wusste nicht, was er machen sollte. Er ging langsamer, als wollte er sie entkommen lassen, doch schließlich fasste er Mut. Sie erschien erschreckend verwundbar, wie sie da gegen den Wind anstapfte, das Wetter setzte ihr zu, das nächtliche London und nun auch noch er. Warum war niemand mitgekommen, um sie zu begleiten oder ihr ein Taxi zu bestellen? Mit einer unbestimmten Sehnsucht lief er hinter ihr her, um sie für weitere zehn, fünfzehn Sekunden in greifbarer Nähe zu haben – eine quälende kleine Komödie das Ganze. Ihren roten Filzhut hatte sie tief ins Gesicht
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