Fremden Kind
weiter, blieb am Tor stehen, blickte zurück; das Mondlicht und die aufgeworfenen Schatten ließen das Haus unwirklich erscheinen, trotz aller Zinnen und Türmchen, wie eine halbe Ruine. Die Schlafräume waren alle dunkel, nur im Erkerfenster des Schuldirektors war das Flimmern des Fernsehers zu sehen. Der Mond schien hell auf die Wetterfahne des Kapellendachs und auf das Zifferblatt der angehaltenen Uhr am Mittelgiebel, unter dem verblassten, in Stein gehauenen Schriftband mit dem Motto der Familie Valance: »Nutze den Tag.«
Merkwürdig, dass Paul sich von Cecils Grabmal so angesprochen gefühlt hatte, auch von der Tatsache, dass Corley Cecils Elternhaus gewesen war. Freilich war es Cecils Bruder Dudley gewesen, der noch dreißig Jahre hier gelebt hatte, bis das Militär eingezogen war. Letztlich konnte man von Glück sagen, dass das viktorianische Interieur verkleidet und verschalt worden war, so gab es für die Soldaten nichts zu zerstören. Es war Dudley Valances Hass auf das Haus, der es erhalten hatte. Es hätte sich bestimmt gelohnt, sich mal mit ihm über die ersten Jahre auf Corley Court zu unterhalten, als Cecil noch ein Kind war. In Schwarze Blumen sprach er recht kühl über seinen Bruder, in manchen Passagen schlug er gar einen sarkastischen Ton an. Trotzdem: Was für ein Thema! Zwei Schriftsteller, die an diesem sagenhaften Ort aufgewach sen waren; das ganze Zeitalter, das es hervorgebracht hatte und dessen Niedergang es am Ende erlebt hatte. Vielleicht sollte er sich das Motto zu eigen machen, den Tag nutzen, anfangen, Material zu sammeln, mit Leuten zu sprechen, zum Beispiel der alten Daphne Jacobs, die sich noch an Cecil erinnerte, ihn geliebt hatte und deren Liebe wohl erwidert worden war.
Aber interessierte sich überhaupt jemand für Cecil? Welchen Rang nahm er ein? Als Dichter war er zweifellos eher unbedeutend, hatte aber zufällig einige Zeilen verfasst, die hängen geblieben waren. Sein Leben war kurz und dramatisch verlaufen, und heute waren alle fasziniert vom Ersten Weltkrieg; in der sechsten Klasse lernten die Schüler Wilfred Owens Hymne für die todgeweihte Jugend, »Anthem for Doomed Youth«, auswendig, und sie mochten auch Cecils Kriegsgedichte, die Peter ihnen gezeigt hatte. Einige dieser Gedichte hatten etwas leicht Schwules an sich, was er auch bei Dudley vermutete. Wenn überhaupt, dann erschien ihm Dudley sogar als der Schwulere von beiden, mit seiner innigen Zuneigung zu einem gewissen Billy Prideaux, der bei einem gemeinsamen nächtlichen Aufklärungsgang erschossen worden war, unmittelbar neben ihm. Dieses Ereignis hatte bei Dudley anscheinend einen Nervenzusammenbruch ausgelöst, den er in seinem Buch mit starken, aber auch verschleiernden Worten beschrieb.
Auf dem Rückweg kam Peter wieder an der Steinbank neben dem Fischteich vorbei und zündete sich eine Zigarette an. Unbedingt ansehen müsste man sich natürlich Cecils Briefe – vielleicht war es ihm ja gelungen, George Sawle mit seinem Charme zu bezaubern, der Mann steckte sicher voller verwertbarer Erinnerungen. Interessant auch, wie er sich über Lytton Strachey geäußert hatte und über das Buch, das bald erscheinen sollte. Würde die Ära der Gerüchte bald von einem Zeitalter der Dokumentation abgelöst? Er sah hinüber zu Corley Court, als bewahrte es das Geheimnis in einem Schrein und erteilte ihm, Peter, auf seine strenge viktorianische Art, den Auftrag, es zu lüften. Wäre er so einer Biografie gewachsen? Die Arbeit daran verlangte eine geregeltere Existenz als alles, was ihm in der Beziehung bisher gelungen war. Seltsam, dachte er oft, dass er hier an diesem Ort gestrandet war, auf dem Land, mit achtzig Kindern und einer Gruppe Erwachsener, von denen er sich keinen zum Freund ausgesucht hätte. Der symbolische Vorteil jedenfalls wäre auf seiner Seite, sollte er dieses Buch jemals schreiben. Die Sterne am Himmelsrand vermehrten sich, und der sinkende Mond warf den schwarzen Umriss des steilen Daches zu einem gruseligen Relief auf. Kein Lüftchen wehte, es war warm, und es herrschte die Regungslosigkeit des idealen englischen Sommers. Es war alles wie geschaffen für den Tag der offenen Tür. Er stand auf und schlenderte angenehm erschöpft in der Vorfreude auf Betätigung zurück zum Haus.
Was war das? Als packe ihn eine Hand am Nacken, so erschrak er, als der Schatten eines schlanken schwarzen Kamins hoch über dem Fenster des Direktors wackelte und sich verschob. Eine drachenartige Form löste sich ab
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