Fremden Kind
und Knicken untergegangene Zeilen, braune Umschläge, durch Reibung und Gebrauch weich geworden. Wahrscheinlich Jonahs Entlassungspapiere aus der Armee. Eine Preisurkunde für eine von ihm gezüchtete Nelke, die er 1965 bekommen hatte. Außerdem eine gefaltete Zeitungskritik einer Schulaufführung. Ein Foto aus der Lokalzeitung von, vermutlich, Gillians Hochzeit. Es berührte ihn, dass der arme Jonah nicht genügend Schätze für mehrere solcher Mappen zusammenbekam – alle Kostbarkeiten mussten hier versammelt sein. Paul stöberte in den losen Papieren, die meisten waren familiärer Art, Standard und Alltägliches, aus einer fernen Welt und auch ein bisschen kümmerlich, aber bereitgelegt in dem Glauben, im Interview gehe es um Jonahs Leben. Paul legte alles wieder zurück, warf noch mal einen letzten Blick in die Mappe, da entdeckte er einen großen braunen Umschlag, adressiert an Hubert Sawle Esq., Two Acres, die Tinte war durchgeschlagen. Mit klopfendem Herzen nahm er ihn in die Hand, spähte rasch hinein, zog die obersten drei, vier Blätter heraus: Briefe, einer mit H. O. Sawle unterzeichnet, vielleicht waren es also nur Zettel und Erinnerungsstücke aus Jonahs Zeit dort. »Ich wünsche Dir viel Glück!« – Mai 1915 … in ausladender, nach links geneigter Handschrift. Schließlich fiel sein Auge – urplötzlich trieb es ihm schuldbewusst das Blut ins Gesicht – auf wieder eine gänzlich andere Handschrift darunter, die er erst allmählich lernte wie die Handschrift eines Geliebten von allen anderen unterscheiden zu können. Ein sehr kleiner Umschlag, adressiert an Pte. J. Trickett, Middlesex-Regiment Barracks, Mill Hill. Der große schwarze Poststempel war verschmiert, doch die Jahreszahl stach hervor, 1916. Als er die anderen Dokumente wieder an ihren Platz legte und sich daranmachte, den kleinen Umschlag zu öffnen, bemerkte er erstaunt, dass er noch etwas anderes, mit Cecils Handschrift Versehenes in der Mappe freigelegt hatte, mehrere Bogen Papier, in zwei Hälften zerrissen, eng beschrieben mit teilweise durchgestrichenen und korrigierten Versen. Seine Finger zitterten, als er den ersten in die Hand nahm, er schien vor seinen Augen zu oszillieren, als sähe er unscharf. Er kannte es, und er kannte es nicht. Er kannte es so gut, dass er nicht darauf kam, was es sein könnte, und dann, als er begriff, stellte er fest, dass es nicht das war, was er kannte. »So herzlich, so kraftvoll, so kühn und so treu …« Oben wurde die Toilettenspülung betätigt, eine Abfolge von gedämpftem Stöhnen und Jaulen wanderte durch die Wasserleitungen des Hauses, dann hörte er Jonahs vorsichtig gesetzte, doch nicht über Gebühr langsame Schritte die Treppe herunterkommen. Fünf ratlose, verwirrende Sekunden Unentschiedenheit. Dann stieß er die Papiere bündig, klappte die Mappe zu, legte den Briefbeschwerer obenauf. Er fragte sein fotografisches Gedächtnis ab, wie alles gewesen war, bevor er es angefasst hatte; doch er war sich absolut sicher, dass alles genauso ausgesehen hatte – sogar der Briefbeschwerer hatte die gleiche Ausrichtung –, und doch, als Jonah das Zimmer betrat, schien es so, als schösse sein Blick direkt dorthin, und Paul fragte sich, ob der letzte Eindruck vielleicht doch nicht akkurat genug wiedergegeben war, um restlos überzeugend zu wirken.
Beim späteren Nachhören der Kassetten, alles so undeutlich und alles unprofessionell aufgenommen, und dem Hin- und Herblättern in der Abschrift, die beschämend wenig zur Klärung beitrug, hatte er bereits das zunehmend quälende Gefühl, etwas sehr Wertvolles verloren zu haben – und hätte doch weder mit Sicherheit sagen können, wie es dazu gekom men war, noch, worum es sich dabei eigentlich handelte. Wusste Jonah mehr über Cecils Freundschaft mit George, als er verraten hatte? Nur zu verständlich, wenn er sich dazu nicht äußern wollte, vielleicht auch nicht die richtigen Worte dafür gefunden hätte. Und obwohl er scheinbar weder für George noch für Daphne viel übrighatte, würde er sich wohl kaum in der Weise, die Paul sich erhoffte, über noch lebende Personen, die er seit fünfundsechzig Jahren nicht mehr gesehen hatte, äußern. Im Dunkeln blieb in diesem Zusammenhang auch, warum Cecil ihm so ein enormes Trinkgeld gegeben hatte, mehr als einen Monatslohn, und bei seinem zweiten Besuch sogar das Doppelte. Warum hatte er das getan? Weil er wusste, dass er »das reinste Grauen« gewesen war – aber was genau bedeutete das eigentlich?
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