Fremden Kind
der Nichtexistenz – vielleicht hatten sie sich auch nur verwählt. »In dem Stuhl bitte nicht zurücklehnen, sonst landen Sie auf dem Boden.«
»Ich war ein bisschen besorgt wegen … Daphne «, machte Paul fürsorglich seinen eigenen Anspruch auf Bekanntschaft mit ihr geltend. »Anscheinend kümmert sich niemand um sie.«
»Sie waren doch sicher sehr galant zu ihr«, sagte Robin mit Bedacht.
»Na ja, so viel habe ich gar nicht gemacht … Kennen Sie sie schon länger?«
Robin starrte ihn an und ächzte leise, als kostete es größte Anstrengung, das genau zu erklären, und sagte schließlich betont langsam: »Die Halbschwester von Daphnes zweitem Ehemann ist die Frau des älteren Bruders meines Vaters.«
»Ah ja … verstehe … also …« Paul sah nach draußen in die Welt hinter dem schmutzigen Fenster, auf das obere Stockwerk eines Pubs gegenüber in der Gray’s Inn Road.
»Daphne ist meine angeheiratete Stieftante.«
»Genau«, sagte Paul. »Das trifft sich gut. Ich möchte Daphne nämlich gerne interviewen, aber sie hat auf meine Anfrage vom November noch nicht geantwortet, das ist drei Monate her …«
»Sie wissen ja, dass sie krank ist«, sagte Robin und zog wieder das Kinn an.
Paul schien bedrückt. »Ich habe befürchtet, dass das der Grund ist.«
»Sie hat eine Makuladegeneration.«
»Oh.«
»Es bedeutet, dass sie nicht richtig sehen kann. Ihre Augen sind sehr schlecht. Und wie Sie vielleicht auch wissen, hat sie ein Emphysem.«
»Kommt das nicht vom Rauchen?«
»Beides kommt davon«, sage Robin und sah seufzend auf seinen Aschenbecher.
»Geht es ihr wieder besser?«
»Ich glaube nicht, dass es jemals wieder besser wird.«
Paul hatte plötzlich das schreckliche Gefühl, sie könnte sich zu Tode qualmen, bevor er Gelegenheit hatte, sie zu sprechen. »Es hat mich gewundert, dass sie überhaupt noch raucht … nach Corinna.«
»Hm.« Robin sah ihn aufmerksam an. »Dann haben Sie Corinna also auch gekannt.«
»Ja, sogar ganz gut«, sagte Paul und bemerkte, als sähe er sie aus den Augenwinkeln, mit welcher Nachsicht er an sie dachte, jetzt, wo sie nicht mehr da war, ihn nicht mehr bloßstellen oder demütigen konnte; sie war zu einem nützlichen Element seiner eigenen Pläne geworden. »Durch sie habe ich Daphne erst kennengelernt. Leslie Keeping war einige Jahre mein Chef.«
»Ach, Sie haben in der Bank gearbeitet?«, sagte Robin. »Verstehe.« Er legte Feuerzeug und Zigarettenpackung im rechten Winkel zueinander hin, als würde er eine komplizierte Berechnung anstellen. »Waren Sie noch da, als Leslie Keeping starb?«
»Nein, da war ich schon weg.«
»Ah, ja.«
»Aber natürlich hatte ich davon gehört.« Es war die schlimmste aufsehenerregende Nachricht, die Paul je un mittelbar betroffen hatte, und so furchtbar sie war, fühlte er sich damit doch auf kühne Art und Weise mit der Familie verbunden.
»Das alles hat Daphne naturgemäß schwer mitgenommen.«
»Ja, sicher …« Paul wartete rücksichtsvoll ab. »Ich habe die Familie 1967 kennengelernt«, sagte er, »aber ich glaube, daran konnte sich Daphne nicht erinnern, als ich sie wiedergetroffen habe.«
»Ihr Gedächtnis ist auf jeden Fall etwas … ähm … sagen wir mal, berechnend«, meinte Robin.
Paul lachte. »Ja, so kann man sagen … Aber ich habe mich gefragt, lebt sie allein?«
»Nein, nein, ihr Sohn Wilfrid, aus erster Ehe – Sie kennen ihn? –, lebt bei ihr.«
»Wilfrid kenne ich allerdings«, sagte Paul und hatte umgehend seinen seltsamen forschen Liebestanz in der Corn Hall in Foxleigh vor Augen, als er ihn das erste und letzte Mal getroffen hatte. Als patenten Krankenpfleger oder auch nur Hausmann konnte er ihn sich schlecht vorstellen. »Und der Sohn aus zweiter Ehe?« Robin schüttelte heftig den Kopf, als schauderte ihm. »Okay …!« Paul lachte. »Und was ist mit den beiden Keeping-Jungen? Besuchen die ihre Oma nicht?«
»John ist viel zu beschäftigt«, sagte Robin entschieden, aber vielleicht auch ironisch. »Und aus Julian ist ein … Aussteiger geworden«, verkündete er mit der Miene eines Beamten, der ein erstaunliches Gerücht weitererzählt. »Wilfrid wird immerhin über kurz oder lang den Titel erben.«
»Ja, natürlich …«
»Er wäre dann der vierte Baronet.« Sie sahen sich nachdenklich an, lachten dann vor leichter Verlegenheit, wie über ein Missverständnis. Paul spürte den sexuellen Unterton, der in ihrer Plauderei mitschwang, allein die Art, mit der sie sich schnell inmitten des
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