Fremden Kind
kannte, älter als ihre Mutter damals. »Freda sieht sehr nett aus.« – »Ja, sehr«, sagte Jonah, »sie war in Ordnung«, obwohl ihre Schwäche, wie er es genannt hatte, jetzt unter dem Vergrößerungsglas an die Oberfläche geschwemmt wurde; und Hubert Sawle, der, kahlköpfig und verantwortungsvoll, neben ihr stand, wusste sicher Bescheid. Sie hatten die unbestimmbare Miene von Menschen in einer nachhaltigen Krise, was zu verbergen sie ihrem Lächeln nicht zutrauten. »Was ist mit George? – Ah, ja, das muss er sein.« George trieb seine Spielchen mit der Kamera, zeigte auf Daphne oder zog hinter ihr eine alberne Fratze. Daphne war ganz das verletzliche Mädchen, das hoffte, sie komme mit ihrem Erwachsentun länger als fünf Minuten durch. Sie saß anmutig lächelnd unter einem ausladenden Hut mit einer Seidenblume an der Krempe. George schlich sich wie ein Spitzbube in einem Stummfilm an sie heran und erschreckte sie. »Ist das nicht …? Ich glaube, ja«, sagte Jonah und überließ Paul noch mal die Lupe, der sie über ein Foto in der unteren Ecke hielt – zwei junge Männer in Liegestühlen, fast auf Bodenniveau, George mit Strohhut, das Gesicht des anderen, bis auf das Schimmern einer Nase und ein Lächeln, im Schatten seiner Hutkrempe verborgen. »Ich glaube, hier haben wir Ihren jungen Mann, oder?«, sagte Jonah. Es hätte wer weiß wer sein können, doch Paul antwortete: »Ja, natürlich, das ist er …!«, und gab sich damit der prickelnden Gewissheit hin, dass er es war.
Er hatte nicht damit gerechnet, solch einen Bildervorrat bei Jonah zu finden; anscheinend hatte der geheimnisvolle, aber allgegenwärtige Harry Hewitt Hubert Sawle eine Kamera geschenkt, und Hubert hatte pflichtbewusst Fotos geschossen und sie großzügig verteilt. Jonah wies ihn auf ein Bild hin, das die beiden Männer zusammen zeigte, wobei seine braunen Finger unter dem Glas die Dargestellten halb verdeckten. »Ja, jetzt sehe ich …« Auf diesem Foto wirkte Hubert ganz anders, linste in die Kamera, hielt verlegen eine Zigarette auf Höhe seiner Hosentasche, während neben ihm, einen Arm um seine Schulter gelegt, als wollte er ihn zu etwas Neuem, Unbekanntem, dem er bislang schüchtern ausgewichen war, begleiten, ein dunkelhaariger, älterer Mann stand, sehr elegant gekleidet, mit einem schmalen, hageren Gesicht, großen Ohren und einem Schnauzer, dessen Enden zu Spitzen gezwirbelt waren. »Das ist also der Mann, für den Sie nach dem Krieg gearbeitet haben …« Das Foto hatte etwas so eindeutig Schwules, dass allein schon die Frage eine Provokation war, und so hatte Jonah sie vielleicht auch aufgefasst. Später fand Paul die Stelle in dem Transkript, wo er ihn über Hewitt ausfragt.
JT:Mr Hewitt war ein Freund der Familie Sawle. Und er war ein großer Freund von Hubert. Ich kannte ihn also schon, gewissermaßen. Zu mir war er immer freundlich. Er wohnte in Harrow Weald. (undeutlich: Paddocks?)
PB:Wie bitte?
JT:So hieß sein Haus.
PB:Oh!
JT:Heute ist es ein Altersheim. Alte Leutchen sind da untergebracht! (lacht keuchend)
PB:Also ein großes Haus.
JT:Er war Kunstsammler, Harry Hewitt. Ich glaube, er hat alles einem Museum vermacht. War es das Victoria and Albert Museum?
PB:Hatte er keine Kinder?
JT:Oh, nein, nein. Er war eingefleischter Junggeselle. Er war immer sehr großzügig zu mir.
Auf der nächsten Seite hatte Jonah seine Dienstbotenkleidung gegen unförmigen Wollserge und eine zu große Schirmmütze eingetauscht und wirkte, in Reih und Glied mit anderen Rekruten, allesamt größer als er, noch jünger als zwei Jahre zuvor; das neugierige Lächeln war einem gequälten Blick voll kindlicher Sorge gewichen. Paul richtete sich kurz auf, sah wie abwesend auf den gepflegten alten Mann mit dem Fotoalbum auf den Knien und bückte sich dann wieder hinunter in das scharfe Odeur aus Rasierseife und Haarwasser.
Kurz darauf musste Jonah auf die Toilette, die sich im ersten Stock befand, wofür er mit der neuen Hüfte wahrscheinlich eine Zeit lang brauchen würde. Als er wohlbehalten den halben Weg zurückgelegt hatte, hielt Paul das Band an, schlenderte im Raum umher, sah freundlich lächelnd aus dem Fenster in den Vorgarten, auf die Straße, nahm dann den Briefbeschwerer von der Mappe auf dem Tisch neben Jonahs Stuhl, las neugierig, wie mit den Augen des Empfängers, noch mal seinen eigenen Brief und hob mit einem Finger den Pappdeckel der Mappe leicht an; vergilbte Zeitungsausschnitte, das Papier bereits spröde, in Ecken
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