Fremden Kind
Und warum konnte sich Jonah daran erinnern, aber an sonst so gut wie nichts? Hatte Cecil sich damit in irgendeiner Sache sein Schweigen erkauft – so wirkungsvoll, dass Jonah diese Angelegenheit tatsächlich vollkommen vergessen hatte? Oder war diese Sache der Grund, warum er ihm in die Mill Hill Barracks geschrieben hatte? Paul ärgerte sich schwarz, dass er den Brief nicht einfach eingesteckt hatte. Warum sollte ein adliger junger Offizier einem einfachen Gefreiten aus einem anderen Regiment schreiben? Erstaunlich genug, dass Cecil in seinem Brief an Freda ihren jungen Diener Jonah überhaupt erwähnte – aus anderen derartigen Briefen wusste Paul, dass Angehörige der Oberschicht niemals die Dienerschaft erwähnten, es sei denn, es handelte sich um eine Person hohen Alters und exzentrischer Würde, wie ein Butler oder ein Kindermädchen. Und dann war vermutlich auch noch die Urschrift von »Two Acres« aufgetaucht, flüchtig, wie in einem Traum, doch eindeutig in einer Vielzahl traumhafter Variationen.
Das Demütigende – nachdem Paul sein Aufnahmegerät eingepackt, seinen Mantel angezogen und der Hausherr seinen Gast zur Tür gebracht hatte – war Jonahs Abfuhr, die im Raum stand und sich in seinem eigenen verkrampften Lächeln widerspiegelte: sein bedauerndes Kopfschütteln, sein keuchendes Beharren, nein, er besitze keinen Brief, nichts Schriftliches von Cecil Valance, sodass Paul sich beim Abschied vorkam, als hätte man ihm eine Falle gestellt. Er musste hinterhältig geguckt haben, vielleicht sogar verschämt gekränkt – und in Jonahs blauen Augen hatten sich Misstrauen und Zurückweisung verdichtet. Paul erzählte Karen davon kein Wort, doch litt er auf der langen Rückfahrt nach Tooting Graveney mehr als zuvor bei der Hinfahrt.
5
S hove?«
»Hm?«
»Fredegond Shove.«
»Oh, ja! … äh …«
»Die Gesammelten Gedichte .«
»Aha …«
»Oder … Moment, wie wäre es hiermit …« Er hielt Paul ein kostbares Buch in einem schwarzen Schuber hin: Eine seltsame Freundschaft: Sir Henry Newbolts Briefe an Sebastian Stokes . »Würde dich so etwas interessieren?«
»Also, eigentlich …« Es wäre vielleicht interessant für seine eigene Recherche, aber nur bedingt; und alles, was er mitnähme, ließ sich früher oder später verkaufen.
»Privatdruck. Wir müssen es also nicht bringen.«
Paul balancierte mit dem Stapel bereits ausgewählter Bücher zur Kante eines Tisches, auf dem Zucker und Kaffeepulver verstreut waren. Hier mischte sich in den Gestank von Gitanes ein Hauch saure Milch. In angeschlagenen alten Tassen mit witzigen Aufdrucken bildeten sich bläuliche Schimmelkrusten. Der eigentliche Büchertisch, zehn Bücher tief, hatte ein kaputtes Bein, das sich auf einem kleinen Turm anderer Bücher aufstützte, die höchstwahrscheinlich nie rezensiert würden. Der Schmutz war beachtlich, aber niemandem, der hier arbeitete – junge Männer in olivgrünen Cordhosen und gut aussehende Frauen, die am Telefon über Yeats oder Poussin schwatzten –, schien das aufzufallen. Sie hockten in ihren niedrigen Kabuffs, umgeben von bergeweise Müll, Büchern und Kartons, Essensresten, alten Kleidungsstücken und Unmengen bekrakelter Korrekturfahnen.
»Also eigentlich – schwule Sachen«, sagte Jake und rieb sich die Hände.
»Genau!«, sagte Paul und ärgerte sich, dass er rot wurde.
»So was kriegen wir jetzt öfter rein …« Jake trug einen Ehering, freute sich aber anscheinend für Paul, dass er schwul war. Er war so alt wie er, vielleicht jünger, eindeutig stolz auf seinen Job beim Times Literary Supplement und freundschaftlich kollegial – »das bringen wir«, »das hatten wir schon«. Paul stellte sich vor, er würde sein Kabuff mit ihm teilen, hoch oben über dem Verkehr, und gemeinsam mit ihm über das Schicksal von Büchern entscheiden. »Bloomsbury, nehme ich an …?«
»Bloomsbury …, Erster Weltkrieg.« Tief unten entdeckte Paul ein vielversprechendes malvenfarbenes Cover, schwule Bücher bevorzugten generell dieses Ende des Spektrums, doch als er es ausgegraben hatte, entpuppte es sich als eine Arbeit über »Historische Fingerhüte«, nicht gerade ausgesprochen schwul. »Ich glaube , es soll ein neuer Band Virginia-Woolf-Briefe herauskommen …«
»Ah, ja«, sagte Jake, »der ist schon vergeben, leider – den macht Norman.«
»Ach so.« Paul zuckte zusammen, nickte, als wäre es nur recht, dass Norman damit beauftragt wurde, fragte sich aber, wer das wohl sein mochte, Norman war
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