Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
Vom Netzwerk:
würde.
    Er ging den trostlosen Flur entlang, bog zuvor noch in die Herrentoilette ab und hatte kaum seinen Hosenschlitz geöffnet, als er die Toilettentür hinter sich quietschen und eine knappe Sekunde darauf ein halb erfreutes, halb verlegenes »Ach, Sie sind das!« hörte. Er drehte sich um und musste, leicht befremdlich, erleben, dass Robin Gray nicht der üblichen Benimmregel folgte und sich von den vier freien Pissoirs ausgerechnet für das neben Paul entschied. Ein scherzhaftes Murmeln und nervöses Herumhampeln, bis er in die Gänge kam, Standfestigkeit erlangt hatte, die Beine breit, wie auf einem schwankenden Schiff, ein gezielter, freimütiger Blick, freundlich, aber geschäftsmäßig, auf Pauls Gedeihen auf der anderen Seite der Porzellantrennwand, und dann, den Blick geradeaus: »Sie hatten ganz recht mit Ihrer Vermutung vorhin.«
    »Ach, wirklich?«, sagte Paul und sah ihn etwas verwirrt an. »Womit denn?«
    »Cecil Valance und die Jungs.«
    »Ach so! Ja … das habe ich mir gedacht.«
    Robin zog wieder das Kinn an und machte seine Miene demonstrativer Diskretion. »Ist nichts für jetzt.« Er stieß ein hustendes Lachen aus. »Aber Sie finden es bestimmt ganz amüsant. Ich erzähle Ihnen mehr, wenn wir uns treffen.« Mit diesem vollmundigen Versprechen zog er seinen Reißverschluss zu und verließ die Toilette.
    Lächelnd schlenderte Paul die breite Treppe hinunter ins Foyer der Times . In seiner Aktentasche steckte Eine seltsame Freundschaft, und seltsam war auch sein Gefühl – zum ersten Mal fühlte er sich von der Familie der Literaturfreunde herzlich aufgenommen, Vorhänge öffneten sich, Türen taten sich auf zu Räumen voller Kuriositäten und Schätze, die seinen Bewohnern völlig normal erschienen, die er aber nur erahnen konnte. Die niedrigen Tische zwischen den Ledersesseln in dem langen, im späten Nachmittagslicht schimmernden Foyer waren mit den aktuellen Ausgaben der Times , der Sun und der drei Times Supplements bedeckt, schlagender Beweis für das, was oben vor sich ging. Im Vorbeigehen nickte er dem uniformierten Empfangschef zum Abschied zu. Die Drehtür fegte von der Straße einen Kurier mit Helm und Leggings herein, auf dem Paket in seiner Hand ein roter Aufkleber: EILIG ; Paul trat in den noch rotierenden Viertelkreis und gelangte auf den Bürgersteig; für die Passanten, die niemals Zutritt zu diesen Mysterien haben würden, hatte er nur ein gnädiges, geschäftiges Lächeln übrig Seine Ausgabe des erst übermorgen erscheinenden TLS hielt er gut sichtbar unterm Arm geklemmt. Hier auf der Straße würden die Leute es nicht begreifen, doch im Lesesaal der British Library könnte es viel Neid und Spekulationen auslösen.

6
    M it zerstreutem Blick und einem Stirnrunzeln, dem seltsamen Gefühl, ein Hochstapler zu sein, trabte Paul die lange Steintreppe hinunter in den Innenhof des College. Obwohl alt genug, um als Don durchzugehen, überkam ihn wellenartig die Nervosität des unkundigen Erstsemesters. Ehrfürchtig ging er unter den gotischen Fensterreihen um den Rasen herum, klammerte sich an seine Aktentasche und stellte sich den bevorstehenden Abend vor, eine Abfolge von Prüfungen: Drinks im Senior Common Room, Dinner in der Hall sowie soziale Kontakte und Konflikte, die wegen der unausgesprochenen Codes, von denen das Collegeleben geprägt war, erst recht einschüchternd wären. Doch irgendwann, war er sich beinahe sicher, heute Abend oder morgen würde er seine Chance bekommen. Selbstverständlich war es immer noch denkbar, dass der alte Herr nicht auftauchte, wozu man mit vierundachtzig alles Recht der Welt hatte. In seiner Aufregung sah Paul sein düsteres aristokratisches Gesicht vor sich, das er von Fotos kannte, dann erklomm er die drei Stufen zum Torhaus – und da stand er, unter dem Bogen, an der Pförtnerloge, in einem dunklen Mantel, auf einen Stock gestützt.
    Beinahe hätte er ihn gegrüßt, er rang nach Luft und unterdrückte im Vorbeigehen ein Lächeln; sein Herz raste angesichts der unvermuteten Gelegenheit – er drehte sich um und stand auf einmal neben ihm, leicht abgewandt, als wartete er auf jemand anders. Wie peinlich, wenn er es doch nicht wäre, aber nein, das breite, falkenartige Gesicht war unverkennbar, vom Alter eher gespannt als zerfurcht, die vollen Lippen etwas schmaler und nach unten gezogen, ausdrucksstarke dunkle Augen, die geradeaus stierten, graues Haar, glatt anliegend nach hinten gekämmt, im Kragen Löckchen. Paul trat zur Seite, um die

Weitere Kostenlose Bücher