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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
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gefreut und wollten unbedingt nach unten kommen. Das Kindermädchen ließ die Hände der Kinder los und schickte sie in die Menge, und Daphne eilte zu ihnen, in dem seltenen und auch beschämenden Ansinnen, sie gleich wieder aus dem Raum zu entfernen. In diesen ultramodernen Salons konnten sie sich nirgends verstecken. Die Kinder liefen zwischen den Beinen der Erwachsenen umher, suchten Zuneigung, wenigstens Aufmerksamkeit. Auf Granny Sawle war immer Verlass; Revel sprach mit Kindern so freundlich und ruhig, dass sie sich wie Erwachsene fühlen durften; und Stinker und Tilda, kinderlos, betrachteten sie mit Neugier und auch ein wenig Furcht, jedenfalls nach Daphnes Eindruck. Es wäre das Beste, die Kinder sich selbst zu überlassen.
    Eine Zeit lang unterhielt sie sich angeregt mit Flo, die sie sehr gernhatte, über den Jahrmarkt in Fernham und Marks Ausstellung in London, doch geschah es mit dem Gefühl, dass sie andere Pflichten vernachlässigte. Sie sah sich um, alles war gut, Corinna bezirzte den Colonel, und Wilfie diskutierte mit George und Sebby Stokes über den Bergarbeiterstreik. Sie stellte Flo ihrer Mutter vor, und die beiden kamen sehr rasch auf den Ring zu sprechen; Flo war letztes Jahr in Bayreuth gewesen, und schon sah Daphne, wie ihre Mutter bei ihrem Lieblingsthema auftaute, das ihr so unerwartet dargeboten worden war. »Ich wünschte, Sie könnten meine liebe Freundin Frau Kalbeck kennenlernen«, sagte sie. »Sie ist oben in ihrem Zimmer. Wir sind vor dem Krieg zusammen in Bayreuth gewesen.« Sie zählten Namen von berühmten Sängern auf, an deren Richtigkeit Freda umgehend Zweifel anmeldete. »Wir hatten das große Vergnügen, Madame Schumann-Heink kennenzulernen«, sagte sie, »die eine der Nor nen sang, glaube ich.« Im selben Moment erklang das Klavier weiter hinten im Raum, ein leises, aber gewichtiges Arpeggio, und gleich danach, wie eine misslungene Fingerübung, die unerträgliche kleine Melodie, die Daphne angeblich so überaus schätzte, wie sie seit Tagen ihren Kindern gegenüber behauptete. »Oh, nein …!«, sagte Dudley frech, aber noch fröhlich, wie einer, der kein Spielverderber sein wollte, über den Gesprächslärm hinweg. Einige im Raum wandten die Köpfe, erfreut, abgelenkt. Wilfie hatte neben dem Klavier Posten bezogen, mit dem Rücken zum Publikum, wie ein Kind, das seiner Strafe harrte. Madeleine und George, für die diese Überraschung gedacht war, standen in unmittelbarer Nähe und blickten beinahe so, als wären sie die Eltern, die ihre Kinder auf die Bühne geschickt hatten. Alle anderen im Raum hatten keine Ahnung, welche Pläne und Versprechungen hier unerbittlich ihre Rechte forderten. Louisa machte eine saure Miene, schüttelte den Kopf und raunte Colonel Fountain in sein gesundes Ohr, wie empfänglich Sir Edwin für Musik gewesen sei. Die Unterhaltung gewann ihre Lebhaftigkeit zurück, allgemeine Erleichterung machte sich breit. Seit vierzig Jahren immerhin war das Klavier nicht angerührt worden; verborgen unter einer mit langen Fransen besetzten Velours-Abdeckung hatte es als robuste Ablage für alle möglichen nützlichen oder auch nur rein dekorativen Gegenstände gedient, und wenn doch mal jemand nach dem Dinner die Tasten freigelegt hatte und zum Scherz eine Phrase anspielte, kroch unter den Stapeln von Folianten, unter den Topfpflanzen und der Arena gerahmter Fotos ein von Zeit und Vernachlässigung erzeugter Missklang hervor, der jeden weiteren Gedanken an Musik zunichte machte. Corinna spielte jetzt den Anfang des Stückes, den täuschend friedlichen Prolog. »Nicht heute Abend, altes Mädchen!«, rief Dudley ihr vom anderen Ende des Salons aus zu, immer humorvoll, aber energisch, in der Erwartung, dass man ihm gehorchte, und grinste Mark kumpelhaft an. Wilfrid hatte sich mittlerweile vor dem Klavier etwas Raum verschafft, indem er auf die leicht gedankenverlorene, geschäftig wirkende Art eines Beamten oder Portiers die Gäste gebeten hatte, ein paar Schritte zurückzutreten. Für einen Moment trat Stille ein, in die der Befehl des Vaters hineinsackte und scheinbar verstanden wurde, die Corinna jedoch in einem Anflug von Selbstgerechtigkeit als Ausdruck angemessener Erwartung an ihren Auftritt interpretierte, als sie mit einem energischen Griff in die Tasten lebhaft »Das glückliche Känguru« anspielte. Nach drei Takten setzte Wilfrid mit schicksalsergebener Miene zu seinem Tanz an, abwechselnd ging er in Hockstellung und sprang dann so weit er konnte.

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