Fremdkörper
habe und den Mund öffne, kommt nichts raus. Nur Laute. Die Muskeln in und um den Mund versagen ihren Dienst. Wenn ich nicht gerade unmittelbar vor einer ausgewachsenen Angstattacke stünde, könnte ich diese Erfahrung vielleicht sogar in irgendeiner Form genießen. Wann erlebt man das schon mal, bei vollem Bewusstsein muskulär und kreislaufmäßig so runtergefahren zu sein? Oder werde ich gleich sogar ausgeschaltet? Wieder bemühe ich den Kopf. Der sammelt alles an verbliebener Disziplin und Kraftreserven, die ich sonst nur für anspruchsvolle Laufrunden akquiriere, und schicke es Richtung Mund- und Rachenraum. Heraus kommen undeutliche Artikulationsversuche. Ich klinge vermutlich wie außergewöhnlich betrunken: »Gehdnichgudd ... Domm? Gehdnichgudd.«
Thom kommt eine Stunde später zu Hause an und findet mich dort vor, wo ich das Telefonat mit ihm beendet habe. Auf unserem Küchenfußboden. Auch als er mich ins Bett bringt, hat sich an meiner desolaten Verfassung nicht viel verändert. Nur: Liegend lässt sich dieser diffuse, fiese Zustand deutlich besser ertragen. Vor allem überschwemmt mich eine Welle größtmöglicher Erschöpfung, der ich mich willenlos hingebe. 24 Stunden (!) später, von denen ich fast alle verschlafen habe, ist der Horrortrip vorbei. Ich bin in allen Abteilungen wiederhergestellt. Bei der Suche nach der Ursache durchwühle ich meinen Arzneikoffer. Vielleicht gibt der eine oder andere Beipackzettel ja Aufschluss über den Grund des Zusammenbruchs. Dabei fällt mir eines der hoch dosierten Wunderprodukte aus der Pharmaindustrie in die Hände. Und dieser Fund löst spontanen Ärger über mich selbst aus. Denn: Genau dieses Mittel gegen die Nebenwirkungen der Chemotherapie hätte ich seit drei Tagen nehmen müssen. Ich sag ja: Volkshochschulkurs. Nicht nur vor dem Zyklus, auch danach muss ich nämlich kostbare Produkte der Pharmaindustrie futtern. Ich hab es – trotz Tabletten-Tabelle – vergessen. Überlesen. Und vergessen. Jetzt weiß ich wenigstens eines ziemlich genau: Das garstige Gift wirkt.
25.
Gift & Mitgift (Woche 5)
Kaffee ist giftig. Alkohol sowieso. Schwarzer und grüner Tee leider auch. Fettiges Futter war noch nie so sehr meines. Deswegen fällt der Verzicht darauf nicht sonderlich schwer. Alles, was die Magenschleimhaut reizen könnte, habe ich für die Gesundheit und gegen die Nebenwirkungen vom Speiseplan gestrichen. An meinem Geburtstag gab es deswegen für mich exklusiv alkoholfreien Sekt. Mit Wahnsinnswirkung: Nach drei Gläschen davon war ich der festen Überzeugung, einen vorzeigbaren Schwips präsentieren zu können. Der Placeboeffekt und ich, wir leben hoch, hoch, hoch.
Funktioniert zurzeit auch mit dem Seelenwohl so. Ich habe angefangen, mit meinem Körper zu reden. Morgens im Stillen im Bett. Während der Infusionen. Oder wenn ich jogge. »Du schaffst das. Komm, nimm das Zeug in jeder Zelle auf. Lass es kaputt machen, was kaputt gehört. Und wenn da nix mehr ist, dann sei stark, und halte es mit mir aus.« Oder auch: »Ich bin stark. Ich bin stark. Ich bin stark.« Wahlweise: »Schööön ist es, so gesuuund zu sein ...« Ich habe keine Ahnung, ob das was bringt. Aber irgendetwas in mir behauptet, dass das der richtige Weg ist: meinen Körper und die Seele wahr- und ernst zu nehmen, nachdem ich beide wohl ein paar Jahre zu sehr vernachlässigt habe. Und deswegen bin ich in den Dialog eingestiegen. Wenn ich mir also nur lang genug sage, dass es mir gut geht, dass ich mich gesund fühle, dass ich diese heftige Medikation irgendwo zwischen Dünn-, Dick- und Blinddarm wegstecke, ja, verdaue, dann tritt er mittelfristig auch ein: der Zustand ausgeglichener, glücklicher Zufriedenheit. Deswegen arbeite ich ja auch ganz normal weiter. Warum nicht dann ebenso »normal« Leute treffen, ausgehen, sich tummeln und gesellig sein? Spricht nichts dagegen. Darum sage ich zur Partyeinladung an diesem Wochenende: Ja, ich will. Genauso wie Maurice und Anna. Die zwei heiraten nämlich. Es ist das erste Mal seit meinem Haarverlust, dass ich mich unter Freunde traue. Eine Trauung ist da ein schöner Anlass.
Thom und ich hübschen uns auf. Nicht, ohne ein bisschen nervös zu werden. Nach leichten Anfangsschwierigkeiten im Umgang mit dem unhandlichen Zweithaar bin ich mittlerweile zwar einigermaßen geschickt darin, die allzu offensichtlichen Ansätze meiner Perücke mit Haarreifen, Bändern oder Tüchern zu kaschieren. Unwohl wird mir nur beim Gedanken, dass sich die anderen
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