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Fremdkörper

Fremdkörper

Titel: Fremdkörper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Miriam Pielhau
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Sogar, als ich meinen Infusionsraum betrete, den Ort der Vergiftung. Angst habe ich keine mehr. Gar keine. Komisch. Mehr noch: Ich bin geradezu euphorisch, dass es jetzt weitergeht im Behandlungsplan. So sehr freue ich mich.
    Weil ich eine der Ersten bin an diesem Morgen, habe ich die freie Wahl des Sitzmöbels. Ich entscheide mich wieder für den Sessel aus der vergangenen Woche. Links, mittig. An dieser Gewohnheit soll sich in den kommenden Monaten übrigens nichts ändern. Obwohl ich es mir mehrfach vornehmen werde, die Routine zu durchbrechen, werde ich immer wieder auf diesem Platz landen. Tradition der Treue. Oder umgekehrt. Er war ja auch immer gut zu mir. Immer heißt jetzt gerade: das eine, erste Mal. Schlafen kann ich darin wie auf Wölkchen. Außerdem habe ich einen unverstellten Blick zur Tür und auch aus dem Fenster raus in den Hof. Schwester Carla kommt um die Ecke geflitzt und flötet mir nach einem fast gesungenen »Guten Mooorgen!« entgegen: »Naaaa? Wie war denn die letzte Woche?« – »Ehrlich gesagt: bestens. Ich hab eigentlich gar nichts gemerkt.« – »Das ist doch super. Weiter so. Sie sehen übrigens auch so aus, wie es Ihnen geht: nämlich gesund.« – »Ach, das lässt sich bestimmt noch ändern.« Kicher, kicher. Als sie sich zum Ausgang wendet, nehme ich mir ein Herz und halte sie noch einmal kurz auf. Seit zwei Wochen beschäftigt mich ein vielleicht dämlicher Gedanke. Ich habe mich bisher nicht getraut, irgendjemanden dazu zu befragen. Irgendwie ist die Frage so doof: »Schwester Carla? Ähm ... wenn ich keine schlimmen Nebenwirkungen habe, heißt das dann auch, dass das Zeug möglicherweise nicht so gut wirkt?« Und noch mal muss sie lachen. Wenngleich leiser und sanfter: »Keine Sorge. Die Angst haben tatsächlich viele Patientinnen, die das alles so prima vertragen wie Sie. Die Medikamente wirken. Ganz sicher. Das merken Sie schneller, als Ihnen lieb ist.« Ich bin beruhigt. Wenigstens für den Moment. Und lehne mich in Erwartung der mehrstündigen Medikamenteneinheit gemütlich zurück. Schwester Carla ist um die Ecke verschwunden, um meinen Rollständer mit den Safttüten zu holen. Aus der Safttüten-Perspektive betrachtet ist Carla eine Art Stewardess, die für meine Flüssigkeitszufuhr sorgt, während ich (medikamentös zugedonnert) fliege. In der Klasse C, wie Chemotherapie. Da hängen die Lösungen: frisch, gekühlt aus der Apotheke eingetroffen, genau auf meine Größe und mein Gewicht abgestimmt und dosiert. Wenn ich weniger oder mehr werde, zumindest wenn es den Toleranzbereich von zwei Kilogramm verlässt, muss ich Bescheid sagen. Dann wird neu berechnet.
    Während sie die unfreundliche, lange Nadel vorbereitet, die sogleich mit einem kurzen Schmerz in meinem Port verschwindet, plaudern wir über Krebs, Überlebenschancen und Prognosen wie andere über das Wetter. Ich bemerke: »Ein gemütlicher Sonntagsspaziergang ist das ja nicht wirklich, was ich hier mitmachen muss, ne?« – »Das nicht. Aber, wenn ich Ihnen das mal sagen darf: Sie machen das genau richtig. Bleiben Sie unbedingt so positiv. Nicht zu viel grummeln. Dann schaffen Sie das ganz unkompliziert.« Ach, wie klein ich mich fühle. Angenehm klein. Dieses verbale Kopfstreicheln löst ähnlich wohlige Schauer aus wie Mamas Rückenkraulen zum Einschlafen früher. Apropos schlafen. Kaum tropft die erste Substanz in mich hinein, gähnt es freimütig aus mir heraus. »Uääääh! Gute Nacht zusammen!« – »Gleich ist sie wieder weg«, giggelt die Dame links neben mir, die zwischenzeitlich am Fenster Platz genommen hat. Richtig, gute Frau. Und: Ich finde das sehr in Ordnung. Die hat mir vermutlich vergangene Woche schon beim angeblich tonvollen Schlummern zugehört. Die anderen Patientinnen kenne ich noch nicht. Je nachdem, was für einen Rhythmus sie verordnet bekommen haben, sehe ich dieselben Gesichter alle zwei oder nur alle sechs Wochen. Gemurmel, das ich schon alsbald nicht mehr differenzieren kann, begleitet mich ins Land der Träume. Da verweile ich fast vier Stunden.
    Erst als Schwester Carla mir die unfreundliche Nadel zieht und die kleine Wunde verklebt, werde ich langsam wieder wach. Der Geist räkelt sich noch etwas und ruft dann euphorisch in mich hinein: »Ha! Nur noch sieben. Das schaff ich mit links. Wär doch gelacht.« Als sich meine Glieder ihre Steife weggeschüttelt haben, verabschiede ich mich fröhlich und trete den Rückweg an. Der Nebel der Benommenheit lichtet sich nach den ersten paar

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