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Fremdkörper

Fremdkörper

Titel: Fremdkörper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Miriam Pielhau
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gepflegten Nichtstun braucht man wohl Übung. Ich habe keine. Noch nicht.

24. 
Glatze & Fratze (Woche 4)
    Der nächste Tag beginnt mit einem geübten Griff ins Haar. Und einem Seufzen. »Thom, es ist so weit. Hilfst du mir?« Als Antwort brummt es schläfrig unter der Decke hervor. Ich beschließe, im Bad schon mal alles herzurichten, bevor ich einen weiteren Weckversuch wage. Seit vorgestern hatte ich bei jedem Kopfstreichen etwa 10 bis 20 Haare in der Hand. Noch nicht so viele, dass es mir Landebahnen ins volle, wenn auch kurze, Deckhaar zieht. Aber genug, um unangenehm zu sein und mich auf diesen Moment vorzubereiten. Eben hatte ich nämlich meinen ersten Büschel in der Hand.
    Der Rasierer liegt bereit, die Videokamera auch. Der Grund ist unerfindlich, doch möchte ich diesen Moment festhalten. Vielleicht um mir selbst Stärke zu demonstrieren und sie auch zu dokumentieren. Oder um mich verpflichtet zu fühlen, die Zähne aufeinander zu beißen. Oder einfach als Erinnerung an einen vermutlich, hoffentlich, ganz sicher einmaligen Moment in meinem Leben. Thom kommt um die Ecke. »Willst du das wirklich machen?« – »Ja, ich werde nicht zusehen, wie ein Strunk nach dem nächsten geht und ich aussehe wie ein zur Hälfte gerupftes Hühnchen.« – »Aber meinst du nicht, das hat noch etwas Zeit?« Ihm scheint vor diesem Moment unverhohlener bang zu sein als mir. Meine Entschlossenheit und das Büschel Haare, das ich vor seinen Augen von meinem Kopf hole, haben Überzeugungskraft. »Es geht mir gut damit. Und Glatze soll ja auch ganz sexy sein.« Ich schaffe ein freundliches Gesicht zu diesen Sätzen.
    Thom filmt, während ich schneide und rasiere. Bei den letzten Feldern und am Hinterkopf hilft er mir. Nach 20 Minuten liegt alles, was ich auf dem Kopf hatte, im Waschbecken. Ich schaue abwechselnd zu ihm und in den Spiegel. Während ich sonst schnell emotional und tränenselig reagiere, bildet sich jetzt erstaunlicherweise nichts im Hals, gegen was ich ankämpfen müsste. Thom küsst die frei gewordene Kopfhaut »Meine kleine G.-I.-Jane.« – Er bekommt einen entrüsteten Blick von mir und: »Nix G. I.«, entgegengeschmettert. Fragezeichen in seinen Augen. Ich erkläre: »Wir sind doch Pazifisten.« Wir müssen schmunzeln. Immerhin: bei unserem Karaokespiel werde ich Sinead O’Connors Nothing compares to you ab heute besonders glaubhaft interpretieren. Zumindest optisch.
    Abends, beim Einschlafen, muss ich mir eine Kapuze über den Kopf ziehen. Ist das kalt.
    Tag 3 nach dem jüngsten Zyklus. Ich wache alleine auf. Mein Körper sagt mir, dass ich mich in Sachen Morgentoilette zügig Richtung Bad bewegen sollte. Aber irgendetwas ist anders als sonst. Auf dem Rücken liegend versuche ich mich in Situationsanalyse. Die Symptome: Ich fühle mich ein bisschen wie betrunken. Die Zunge ist schwer, die Glieder auch. Jede Muskelanspannung ein schier unmöglicher Kraftakt. Was ist bloß los? Habe ich zu wenig gegessen gestern? Was Schlechtes? Keinen Schimmer, auf was für eine Diagnose das hinausläuft. Ich schiebe mich mühsam in die Vertikale.
    Auf dem Bett sitzend wird mir schwarz. Lauter kleine, weiße Punkte funkeln vor den Augen. Das wäre sogar ganz hübsch, wäre mir nicht gleichzeitig so furchtbar schlecht. Beim Versuch aufzustehen, geben die Knie nach. Auf allen vieren krieche ich in den Flur. Zum Telefon. Thom ist schon seit zwei Stunden aus dem Haus. Ich muss versuchen, ihn zu erreichen. Irgendetwas stimmt nicht mit mir. Und ich weiß nicht, wie lange ich das noch bei vollem Bewusstsein erkenne. Mein Körper zittert. Hitze. Kälte. Beides. Im Wechsel. Mir ist so übel. Ich fühle mich schwach wie noch nie. Immer wieder bleibe ich auf der kurzen Strecke still sitzen. Zweimal versuche ich, mich an unseren Küchenstühlen hochzuziehen. Mit kurzfristigem Erfolg. Die Beine klappen einfach weg. Unglaublich. Wie können die nur?! Ich hab denen das nicht erlaubt. Panik macht sich allmählich in mir breit. Mein Körper gehorcht mir nicht mehr. Selbst der Kopf bringt ihn nicht mehr zur Vernunft. Was, wenn jetzt das Leben aus mir schwindet – und keiner merkt es?
    Dieser Zustand der Schwäche in jedem Körperglied und diese widerliche Bewegungsunfähigkeit ist neu. Und fremd. Und sehr, sehr unangenehm. Die Ziffern auf der Telefontastatur verschwimmen. Gibt’s doch nicht. So was kenne ich sonst nur aus dem Kino. Und zwar wenn die Heldin erste Reaktionen einer hinterhältigen Vergiftung zeigt. Als ich Thom an der Strippe

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