Fremdkörper
mich wieder herzlich in Empfang. Wie wenig Angst ich habe! Weil ich mich auf das Ergebnis so freue. Und sie freut sich, dass ich mich freue. Eine Stunde und ein paar Schnitte später wache ich auf, taste nach meinem Schlüsselbein. Nichts. Ich fühle nichts. Kein Knubbel mehr unter der Haut. Nichts mehr zum an und aus stellen. Auch dieser Fremdkörper ist jetzt wieder weg.
Zwei Tage später steht eine Veranstaltung an, zu der wir eingeladen sind, die mir wichtig ist. Es handelt sich um den alljährlichen Dreamball der Deutschen Knochenmarkspende und ihrer Gruppe DKMS life. Während ich sämtliche öffentlichen Auftritte in den vergangenen Wochen abgesagt habe, besprechen Thom und ich, ob wir unsere Zusage einhalten oder nicht. Ich habe mich verunsichern lassen, weil mir zugetragen wurde, dass die Tatsache, dass ich chemotherapeutisch behandelt werde, jetzt angeblich doch zur Presse durchgedrungen sei. Auf den dann zu erwartenden Sturm habe ich überhaupt keine Lust. Was also tun? Thom zeigt mir die Möglichkeiten auf. Derer gibt es nur zwei: Hingehen und darüber reden. Oder zu Hause bleiben. »Und wenn sie dann trotzdem schreiben, dass ich Chemo bekomme – obwohl ich gar nicht da war und gar nichts zu diesem Thema gesagt habe? Und sie reimen sich irgendetwas zusammen, was gar nicht stimmt?« – »Dann kannst du es nicht verhindern.« Dieser Gedanke gefällt mir nicht. Noch weniger als der an einen Auftritt, bei dem ich mehr oder minder freiwillig erzähle, was eigentlich los ist. Wenn ich die Lage richtig analysiere, wird, ob ich will oder nicht, in den kommenden Tagen in mehreren Zeitungen etwas zu meiner Therapie erscheinen. Irgendjemand hat mich mit meinem Tuchkonstrukt laufen sehen. Und auch Fotos davon gemacht.
Ich habe letztlich nur eine Chance, das Ganze einigermaßen zu kontrollieren. Und das ist die Kontrolle über selbstbestimmte Informationsweitergabe. Also: hingehen.
Während ich mich im Badezimmer zurechtmache, steigt die Nervosität. Ich ziehe mir mit feinen Strichen die noch nicht wieder vorhandenen Augenbrauen nach. Will mir, wie so oft, Wimpern ankleben. Was nur mäßig gut gelingt. Das Händchen ist nicht nur eiskalt, sondern auch zittrig. Ironie oder Fügung des Schicksal, dass ich mein monatelang streng gehütetes Geheimnis ausgerechnet beim Dreamball lüften muss. Einem Event der DKMS life, die Frauen in Chemotherapie mit Schminkkursen und Make-up-Tipps zu mehr Selbstbewusstsein verhelfen will. Na, dann geh ich auch gleich mal los, meine brandaktuellen Beautygeheimnisse zu verraten, was?
»Ich trage eine Perücke. Die Augenbrauen sind gemalt und meine Wimpern aufgeklebt.« Ich strahle die Reporterin mit größtmöglichen Augen an. Aber ich habe einen Herzschlag, so hart und heftig, dass ich mir sicher bin, man müsste ihn weit über die Grenzen meines Körpers hinaus hören können. Selten war ich so aufgeregt wie in diesem Augenblick, als ich jene Worte zum ersten Mal in ein Mikrofon und eine Kamera spreche. Die Reaktion ist wie erwartet: Verblüffung. Wenigstens kein Entsetzen. Es hatte wohl keiner mit so viel Offenheit gerechnet. Oder hat sie es nicht gewusst? Ich habe mich ja sogar selbst ein wenig von mir überrumpelt gefühlt. Dementsprechend zügig schaffe ich es auch, allen Kollegen einen Kommentar dazu zu geben, ohne stundenlang auf dem roten Teppich zu verweilen. Es geht so flott, weil allzu viele Fragen logischerweise niemand vorbereitet hat. Niemand hat vorbereiten können. Überraschungsmoment genutzt. Und im Saal selbst sind keine Kamerateams zugelassen. Als sich die Tür hinter mir schließt, atme ich tief durch. Geschafft. Es ist fast ein bisschen befreiend, diese meine Geschichte jetzt nicht mehr ganz so mühevoll verstecken zu müssen. Keine Angst mehr davor zu haben, dass irgendjemand Fotos von mir mit schlecht sitzender Perücke oder anderer, entlarvender Kopfbedeckung macht. Dass mir jemand beim Nachhausekommen auflauert. Dass wieder irgendein Mitarbeiter des Krankenhauses Details zu meiner Person verkauft, die ich lieber für mich behalten hätte. Jetzt ist es raus. Und ich habe hoffentlich ein für alle Mal meine Ruhe. Reicht. Der Rummel.
Der Abend wird sehr schön. Es gibt köstliches Essen und ansprechende Populärmusik. Unsere Tischnachbarinnen sind sehr charmant und unterhaltsam, sodass ich es sehr bedauere, gegen Mitternacht den Aufbruch einzuläuten. Aber ich muss ins Bett. Nicht nur, weil ich durch den Verlauf des Abends doch aufgewühlter bin, als ich mir
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