Fremdkörper
»sie von Anfang an durch die Krankheit zu begleiten«, werden allerhand schmutzige Finger in meine offene Wunde gelegt. Hätte man nicht warten können, bis wenigstens ein bisschen Schorf darüber gewachsen ist? Meine Diagnose ist doch erst so wenige Tage alt. Ich weiß doch noch nicht einmal, ob ich diese Sache, dieses Jahr überlebe. Aber gut, dass vorsorglich schon mal die Republik über mein Elend in Kenntnis gesetzt wird. Herzlichen Dank auch. »Hoffentlich bauschen sie die Sache nicht so groß auf«, denke ich noch vor dem Einschlafen. Und mache mein Handy vorsichtshalber aus. Falls die Geschichte jemand lesen sollte, will ich morgen am Telefon nicht dauernd dasselbe erzählen oder auf Kurzmitteilungen antworten müssen.
Dezent und unauffällig geht anders – komischerweise sind das die ersten Gedanken, die ich habe, als mir tags darauf die Titelseite ins Auge sticht. Dann erst registriert mein Geist, was über die Pupillen via Sehnerv ins Hirn transportiert wurde. Ich stolpere rückwärts wieder aus dem Kiosk. Und zwar ohne, wie eigentlich geplant, Milch zu kaufen. Aufgebracht überbringe ich Thom die neuen, ganz schlechten Nachrichten: »Die haben das auf den Titel gesetzt. Nicht irgendwo im Innenteil.« – »Hast du eine Zeitung mitgebracht?« – »Natürlich nicht.« Ich bin entrüstet. Und entwaffnet. Mir wird anders. Auf einmal ist das Schlimme nicht nur für mich schlimm. Sondern Gesprächsthema bei vielen Leuten. Die Allerallermeisten davon mir nicht persönlich bekannt. Das fühlt sich an, als hätte man mich splitterfasernackt ausgezogen im Fernsehen zur besten Sendezeit gezeigt. Ich fühle mich bloßgestellt und vorgeführt. Hüllen- und schutzlos. Meine Intimzone im Mittelpunkt des Interesses. Ich schäme mich. Ohne zu wissen, wofür.
»Und was machen wir jetzt?« Ich bin komplett handlungs- und entscheidungsunfähig. Kein greifbarer Gedanke in den Synapsen. Wir überlegen kurz. Nicht rausgehen heute. Nicht ans Telefon. Handy ist sowieso aus. Und kein Fernsehen. Aus meiner Zeit als Moderatorin eines Boulevardmagazins weiß ich noch zu gut, dass ein Thema, das in dieser Zeitung auf der ersten Seite diskutiert wird, ziemlich sicher in allen Sendungen dieser Geschmacksrichtung aufgegriffen wird. Auch wenn ich mich überhaupt nicht persönlich dazu äußere. Übelkeit flutet Mund und Magen. Am liebsten würde ich jetzt abhauen. Irgendwohin, weit und lange weg, wo mich keiner kennt. Wo ich Ruhe habe. Und am besten auch keine Krankheit. Stattdessen ist die Couch mein Exil und Luftlöcher starren das Freizeitprogramm. Und wie ich da so liege und glotze und rotze, stelle ich fest, wie wahnsinnig verwundbar Wonderwoman doch ist. Sonst so stark. Jetzt gerade aber sehr zart. Schon immer gewesen? Oder erst geworden? Ich weiß es nicht. Weiß nur, dass ich dringend einen Mechanismus entwickeln muss, der mich vor dem nächsten großen Trauma schützt. Bald gehen mir nämlich die (Trost-)Pflaster aus. Wer weiß schon, wie viele Verletzungen das Schicksal noch in seiner großen, undurchsichtigen Wundertüte für mich hat? Ich fühle mich überfordert mit der Situation. Nicht nur, dass ich ein wirklich gravierendes medizinisches Problem lösen muss. Nein, ab heute nehmen Millionen von Menschen auch noch Teil daran – ohne, dass ich sie darum gebeten hätte. Und auch damit muss ich zurechtkommen. Mit einem ausgewachsenen Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom wäre die Sache ein großartiges Geschenk. So ist es mir ein Geschwür, das mir – artgerecht – auf den Magen schlägt. Dieses elende Gefühl im Bauch, der Brechreiz, die alles überwältigende Kraftlosigkeit und doch gleichzeitig das Wissen darum, dass ich gefälligst bitte schön kämpfen muss – und sei es nur zum eigenen Schutz.
Letztlich sind diese Gefühle erste Vorboten dessen, was mich in den kommenden Monaten erwarten wird. Mal sind es Medikamente, mal Momente, die fiese Versuche wagen, mich immer wieder niederzuschmettern oder auszuknocken, meine Psyche mürbe zu machen. In der anderen Ecke des Rings: mein durchaus ausgeprägter Dickkopf. Denn nur einem nicht näher definierten Starrsinn, demzufolge ich es überhaupt nicht einsehe, nach- geschweige denn aufzugeben, ist es zu danken, dass ich mich immer wieder berappele. Und nicht den totalen Nerven- und noch schlimmer Seelenzusammenbruch erleide. »Nichtsdestotrotz«, murmele ich vor mich hin, »brauche ich eine Art Frühwarnsystem« – und das muss ich mir in meinem Kopf so zurechtbauen, dass
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