Fremdkörper
Statistik von 1992 war. In der Zeitrechnung der Brustkrebsforschung: sehr überaltet, fast steinzeitlich. Und davon gibt es so viel im Netz: grandios antike Daten. Das ist umso fataler, als dass sie einen nicht fröhlich machen, diese Zahlen. Dabei taugt Frohsinn eigentlich ganz gut im Gefecht.)
Dahin mein Kämpfergeist. Die Rüstung fängt an zu rosten. Sind wohl zu viele Tränen draufgetropft.
Thom steht plötzlich hinter mir und will wissen, nach was genau ich suche. Ich erkläre ihm, dass es mich nervös macht, nicht genau zu wissen, was Sache ist. Und vor allem, wie es weitergeht: die nächsten Tage und übrigens auch den Rest meines Lebens.
Wir reden über das, was wir gefunden haben. Natürlich hat auch er sein Wissen mithilfe des Internets aufgebessert. Aber wirklich Mut machend ist das alles nicht. Liegt das an der ärztlichen Vorsicht, wissenschaftlichen Unwägbarkeiten oder der medizinischen Ausdrucksweise? So ein einfaches: »Liebe Brustkrebspatientinnen. Das wird schon«, könnte Motivationsmirakel bewirken. Müssen wir selbst machen. Daher verabreden wir, uns nur das Positive zu merken. »Ist heilbar – Forschung sehr weit – Therapiemethoden immer wieder verbessert.«
Und dann bekomme ich von ihm das, was im Nachhinein betrachtet nach der freundlichen und nicht sparsamen Portion Liebe das Zweitbeste war, was er mir hat geben können: striktes Internetverbot. Wenn wir etwas wissen wollen, dann möchte er sich darum kümmern, die entsprechenden Informationen zusammenzutragen. Und vor allen Dingen will er sie filtern. Mir ist zunächst nicht wohl bei dem Gedanken. Soll der ganze Dreck und Schmodder wirklich an ihm allein hängen bleiben? »Ja, er soll«, sagt Thom mit einer verantwortungsvollen Entschlossenheit, die keinen Widerspruch akzeptiert. Ich versuche mir meine eigene Meinung zu diesem Modell zu bilden. Es stimmt schon: die Gefahr, sich bei der Suche in verzweifelten Foren-Einträgen zu verlieren und jedes von Laien eingetragene Symptom und dessen unguten Ausgang auf sich zu beziehen, ist groß. Mit jeder schlechten Nachricht, jedem traurigen Verlauf, von dem ich lese, wird das Häufchen Elend, das ich bin, größer. Das hat Thom in den vergangenen Stunden bestens beobachten können. Also will er jetzt lieber alles auf sich alleine nehmen – um mich nicht mehr so am Boden zerstört zu erleben. Das ist ziemlich tapfer. Und hat eine angenehme Nebenwirkung: Bin ich stark, kann er es auch sein. Daher besser nicht zu oft schwach werden, sonst fällt auch ihm das Starksein schwer.
6.
Ein Schwein ruft mich an
Zwei Tage nach der Veröffentlichung, quälende und ziemlich zähe 48 Stunden, habe ich mir mediale Isolation verordnet. Heute, so beschließe ich, muss der Wiedereintritt ins soziale Netzwerk vorbereitet werden. Als ich mein Mobiltelefon einschalte, passiert das, was ich mir in meinem Kopf so oft in den vergangenen Stunden ausgemalt habe. Komisch, wenn es dann wirklich so ist. Es hört einfach nicht auf zu bimmeln. Eine Kurzmitteilung nach der anderen landet auf meinem Telefon. In dieser ungekannten Penetranz finde ich den Mitteilungston, den ich irgendwann mal gedankenlos ausgesucht habe, ganz schön anstrengend. Könnte aber auch sein, dass mein Nervenkostüm einfach etwas überlastet ist. Der Ordner Posteingang ist es jedenfalls alsbald. Und das Gebimmel stoppt. Ich klicke mich mit argwöhnischer Vorsicht durch diesen Nachrichtenwust. Das Schöne: Es gibt kaum Anlass zu Bluthochdruck. Viele gute und auch ein paar gut gemeinte Mitgefühlsbekundungen. Erstere könnten von zweiteren zwar nicht weiter entfernt sein, doch immerhin erkenne ich trotz umnachtetem Geist die ehrenhafte Absicht dahinter an. Überdies treffen die meisten den richtigen Ton. Was in diesem speziellen Fall heißt: Sie rühren mich mal wieder zu Tränen. Bekannte, Freunde, Familienmitglieder. Menschen, die irgendein positiv besetztes Gefühl zwischen Mögen und Lieben für mich empfinden, schreiben ... ja, was eigentlich? So unterschiedliches: Der eine drückt sein pures Entsetzen aus und Wut über diese »unangebrachte Ungerechtigkeit des Schicksals«. Die andere bietet Umarmung und Trost und Küsse auf Wunsch »24 Stunden. Auch als Telefon-Notfall-Service«. Ein Dritter kommt pragmatisch mit Mutzusprechung und Ernährungstipps um die Ecke. »Beeren sind besonders gesund in deinem Fall. Du packst das.« Diese Botschaften zeigen etwas recht Hübsches und Hoffnungsfrohes: In 160 Zeichen lassen sich viel Liebe,
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