French 75: Ein Rostock-Krimi
daher hatte er gegrinst, als Tina Schneider ihm nach einigem Zögern ihre Anschrift gegeben hatte, angeblich, damit er ihr Werbeprospekte und Fragelisten eines Vereins zuschicken konnte, die sie dann bewerten sollte.
Er schloss das Fahrrad an eine Laterne und stellte sich gegenüber vom Eingang unter das Vordach der Hausnummer fünfzehn. Auf seiner Uhr war es kurz nach halb zwei. Alle Fenster des Neubaublocks waren dunkel. In der Ferne johlten ein paar Betrunkene, vielleicht Jugendliche, die nicht nach Hause wollten. Teenager, die endlich ihre Erfahrungen machen wollten, aber nicht wussten, wie und womit. Halbwüchsige, die nur einen Zeitpunkt kannten: Jetzt! Jungs also, denen der Vater fehlte. Tim nickte und schloss für einen Moment die Augen, während er dachte: Es gibt zuviel Elend auf der Welt.
Laut Klingelschild wohnte sie in der dritten Etage. Rechts. Dort sah er eines der Fenster angekippt.
Tim zog sich die Kapuze über, zurrte sie am Hals fest und schloss die Klettverschlüsse an den Fuß- und Handgelenken, bevor er die ersten Sauger an die Wand drückte, mit deren Hilfe er wenig später die Fassade hinaufkletterte. Die beiden letzten Sauger platzierte er links vom Fenster und verband sie mit einem kurzen Stahlseil, unter das er den linken Arm schob, um so einen Halt zu bekommen. Den rechten Fuß hatte er schon auf dem blechernen Fensterbrett, als er durch den Fensterspalt griff, gegen die Metallschiene drückte, die das Fenster am Rahmen hielt, und wenig später die beiden Schrauben der Schiene mit einem Spezialschraubendreher löste.
Er atmete durch den Mund, um auf fremde Geräusche achten zu können. Als kurz darauf das Fenster nach innen fiel, fing er es routiniert auf. So hatte er es sich vorgestellt, so hatte er es am eigenen Fenster trainiert.
Er stand auf dem Fensterbrett, hielt das Fenster noch immer in der Hand, ging in die Hocke und legte es ab, als es Halt auf dem inneren Fensterbrett gefunden hatte. Ruhig stieg er ins Wohnzimmer, fing das Fenster auf, das gerade mit einem Krachen aus der Halterung zu brechen drohte, und lehnte es zurück gegen den Rahmen, um die beiden Schrauben wieder festzudrehen. Als er fertig war, sah er sich das Werk zufrieden an. Es war unmöglich festzustellen, dass hier eingebrochen worden war, und wenn er nachher durch die Wohnungstür verschwand, würden diese Amateure von Kriminalisten erneut glauben, das Opfer habe seinen Mörder gekannt, es habe ihn persönlich hineingelassen. Sollten sie doch.
Er wischte sich mit dem behandschuhten Handrücken über die trockenen Lippen und setzte sich auf die Couch. Die Stand-by-Diode des Fernsehers leuchtete rot. Er stellte fest, dass Tina Schneider zuletzt VOX gesehen hatte.
Tina schreckte aus dem Schlaf hoch, unsicher. Hatte sie etwas geweckt oder war es nur ein Albtraum gewesen? Sie hob ein wenig den Kopf, um mit beiden Ohren zu lauschen, hielt den Atem an, hörte aber nichts.
Ihr war kalt geworden, obwohl sie gut zugedeckt war. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass die Schlafzimmertür offen stand. War es deswegen so kalt im Zimmer? War Björn hier gewesen? Neben ihr lag er jedenfalls nicht. Sie ließ den Kopf aufs Kissen zurückfallen und schloss wieder die Augen. Tina ahnte nicht, dass sie sie nie wieder öffnen würde.
Er inspizierte den Kühlschrank, fand vor allem kindgerechte Lebensmittel, warf einen Blick ins Kinderzimmer und befand sich wenig später am Tatort. Tina Schneider schlief ruhig. Haare waren ihr ins Gesicht gefallen. Sie lag auf der Seite, die Hände unter der Zudecke. Er lüftete die Decke, fand ihre Hände zwischen den Schenkeln und ließ sie wieder fallen.
Tim schüttelte den Kopf. Diesem Schicksal hätte sie entgehen können! Sehr leise seufzte er auf, dann ärgerte er sich, weil Tina Schneider falsch dalag. Er musste warten, bis sie sich umdrehte, das Gesicht auf der anderen Seite, zur Mitte des Ehebettes hin.
Unmöglich konnte er ihr die Kehle durchschneiden und gleichzeitig in ihr Gesicht sehen. Das konnte niemand. Er konnte aber auch nicht aufs Bett klettern, weil die Matratze so weich war. Ihm blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten.
Ein Mensch drehte sich durchschnittlich siebenhundertsechsundzwanzig Mal in einer Nacht hin und her, das wusste er. Es konnte also nicht lange dauern. Würde sie sich bäuchlings hinlegen, wäre das auch nicht weiter schlimm, meinte er.
Nur rücklings ginge gar nicht.
Groß kam Tina Schneider sich vor, stark, begehrte sie doch dieser ungewöhnliche
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