French 75: Ein Rostock-Krimi
abreitet, sollte keine Eile haben.
ZWEITER TEIL
V.
Bevor Tina Schneider zu ihrem Siebenjährigen ins Kinderzimmer ging, um zu sehen, ob er zugedeckt war, schaltete sie den Fernseher aus und kippte im Wohnzimmer das Fenster an. Halb eins war es, als sie leise die Tür öffnete und das Gesicht ihres Sohnes im Licht der Straßenlaternen schimmern sah. Hinter den Lidern bewegten sich die Pupillen, Björn träumte. Er verarbeitete, was er den Tag über erlebt hatte. Tina erschrak, als ihr klar wurde, dass sie nicht wusste, was ihren Sohn gerade beschäftigte. Dabei hatte sie doch an der Heckscheibe ihres Autos einen provozierenden Aufkleber: Haben Sie heute schon Ihr Kind umarmt?
Hatte sie nicht.
Tina ging zum Kinderbett und strich ihrem Sohn über die unbändig wachsenden Haare. Schon wieder waren acht Euro neunzig für den Friseur fällig. Tina lächelte und verließ das Kinderzimmer, um nach einem langen Arbeitstag endlich ins Bett zu gehen.
Sie fühlte sich wohl hier, in ihrer Geburtstadt, in der sie immer geblieben war. Sie hätte nicht sagen können, warum sie nie den Gedanken gehabt hatte, wegzugehen, aber das brauchte sie ja auch nicht. Rostock war weitläufig genug. Im Neubauviertel, fast schon wie ein Dorf in der Stadt, war sie heimisch geworden, und wenn sie zur ihrer Buchhandlung am Ulmenmarkt fuhr, dann war sie mitten in einer Großstadt. Heute brachten Touristen Sprachfetzen aus den unterschiedlichsten Ländern in die Seestadt, und Tina hatte sogar zwei japanische Reiseführer im Sortiment! Vielleicht gefiel ihr gerade diese große Unentschiedenheit, von der Rostock so profitierte. Da war das quirlige Zentrum und da waren die dörflichen Wohnsiedlungen, aber da waren auch die Meeresstille und das Meeresrauschen von Warnemünde. Man konnte mit dem Fahrrad am Ufer entlang bis nach Wismar fahren, wenn man es schaffte! Oder ostwärts bis auf den Darß. Und dann diese Einwohner! Auch wenn sehr viele Rostocker in der weiten Welt verstreut waren, es waren noch genug geblieben. Tina war Mitglied von drei Stammtischen, und wenn die drei obligatorischen Biergläser gelehrt waren, denn eigentlich wollte man niemals mehr trinken, blieb man doch sitzen. Dann ging es wieder um die vielen und guten Geschäftsideen, die in Rostock ausgebrütet wurden. Und keiner der Zuhörer lachte, immer war man neugierig, als wäre Rostock nach wie vor ein kaufmännisches Zentrum wie zu Zeiten der Hanse. Ob ihnen das im Blut lag? Das Bewusstsein, mit fast allem Geld verdienen zu können, wenn es nur verwirklicht wurde? Tina lächelte, als sie sich an den letzten Stammtisch im Café Kiwi erinnerte. Ein Journalist, der davon lebte, für eine Wochenzeitschrift eine Kolumne zu schreiben, wollte ein Drehbuch für einen Historienfilm schreiben, der in Rostock spielte. Er hätte einen Kontakt zu einer Agentin in Hamburg, die ein Büro in Hollywood habe, hatte er gesagt. Sofort wurden die Biergläser weggeräumt, ein Blatt Papier auf den Tisch gelegt, und los ging es mit der Liste, was alles unbedingt in dem Film zu sehen sein müsse. Zum Glück für Tina hielt auch die Sucht nach Lesestoff an. Die Leute kauften Bücher, fast wahllos und immer dankbar, wenn sie ihnen als Chefin der Buchhandlung einen Tipp geben konnte.
Sie schaltete die Nachttischlampe an, zog das Kopfkissen zurecht, lehnte sich gegen die Wand und schlug einen neuen Krimi auf, der noch gar nicht im Handel war. Leseexemplar, bitte nicht vor der Buchmesse besprechen war auf der dritten Seite aufgestempelt. Und darunter: Nicht zum Verkauf bestimmt .
In der letzten Saison war der Autor zum härtesten Thrillerautor im deutschsprachigen Raum gekürt worden, doch in diesem neuen Roman hatte es im ganzen ersten Teil keine einzige Leiche gegeben. Tina ließ die Seiten über den Daumen schnippen. Was sollte das noch werden? Jetzt war sie schon im fünften Kapitel! Nicht mal eine Misshandlung oder eine Schlägerei oder ein Diebstahl. Kapitel fünf! Teil zwei!
Tina Schneider schlug das Buch zu, ohne auch nur einen einzigen Absatz gelesen zu haben, und schaltete das Licht aus. Sie drehte sich auf die Seite und schloss die Augen.
Tina ahnte nicht, dass es das vorletzte Mal war.
Den Neubaublock fand er schnell. Tim Leidger kannte sich im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen gut aus. Als sie ihm am Telefon endlich ihre Adresse gesagt hatte, war er froh gewesen, nicht so weit fahren zu müssen. Als Call-Center-Agent wusste er ja nie, wo er anrief und mit wem er telefonierte, und
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