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French 75: Ein Rostock-Krimi

French 75: Ein Rostock-Krimi

Titel: French 75: Ein Rostock-Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard R. Roesch
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mehr , dachte er und nahm sich erneut den Thriller vor. In dem ging es ja wirklich zur Sache! Was da in Frankreich damals los war, Wahnsinn! Kein Wunder, dass da die Revolution ausgebrochen war. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit für alle! Hinein in den Krieg, hinein in die Revolution! Tim interpretierte das auf seine Weise: Brüder, befreien wir uns von unseren hartherzigen Müttern und nehmen wir die Väter in die Pflicht! Nur weg von den Müttern! Mutterflucht war doch der wahre Grund für alle Revolutionen! Tim schlug das Buch zu und antwortete einer Angerufenen so, dass sie sofort wieder auflegte.
    Kurz darauf hatte er die Stimme eines Kontrolleurs im Ohr: »Was war das denn gerade?«
    »Kurzzeitiges Flimmern vor den Augen«, sagte er wahrheitsgemäß.
    »Dann nimm dir eine kurze Pause.«
    »Geht nicht, ich kann nicht aufstehen, weil dann mein elendes Herz nur noch mehr rast.«
    »Wir brauchen hier nur die Besten.«
    »Also mich.«
    »Nicht noch mal heute!«, sagte der Kontrolleur und schaltete sich aus der Leitung. Dann war wieder das Tuten zu hören. Dreimal erklang es, dann wählte der Automat eine neue Nummer. Die Chefs hatten Angst, dass sich die Anrufbeantworter zu oft einschalteten, was nur unnütze Kosten verursachte. Abschalten nach dreimaligem Klingeln sind fast immer Anrufe aus Callcentern , dachte Tim Leidger.
    »Ja, hier ist die Kleinfamilie Großschmidt.«
    »Schönen guten Tag, Frau Kleinfamilie, hier ist das Markt- und Meinungsforschungsinstitut.«
    »Welches?«
    »Den Namen darf ich nicht sagen, weil die Umfrage objektiv bleiben muss, aber Sie kennen uns sicherlich, wenn ich Ihnen die erste Frage stelle: Welche Partei würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?«
    »Die Grünen.«
    »Moment, damit es wirklich objektiv zugeht, muss ich Ihnen erst alle vorlesen, vielleicht fällt Ihnen ja gerade eine nicht ein, und die ist dann diejenige welche. Also: CDU, SPD, FDP, die Linke, die Grünen.«
    »Die Grünen.«
    »Ich danke Ihnen –«
    »War’s das schon? Das ging ja mal schnell! Super, dann noch einen guten Tag! Tschüss.»
    »Moment, Moment. – Mist», sagte Tim und drückte wenig später wieder auf »d« für unkompetent.
    »Was war das denn?«, fragte der Kontrolleur wieder: »Du sollst dich zwischendurch doch nicht bedanken! Ich erinnere an das Memo drei Strich vierundsiebzig.«
    »Ja. Machst du jetzt einen großen Lauschangriff bei mir?«
    »Quatsch!«
    »Mobbing ist strafbar.«
    »Warum drückst du eigentlich immer auf ›d‹? – Wir brauchen das Tatsächliche, nicht das Gefühlte, klar?«
    »Klar. – Aber ich hab’ jetzt eh Feierabend!«
    »Da hast du ja mal wieder Schwein gehabt, beim dritten Mal hätte es eine Ermahnung gegeben.«
    »Wenn das Wörtchen wenn nicht wär, dann wär mein Vater Millionär! – Dann bis Freitag!«
    »Hau rein!«
    Tim nahm sich das Headset vom Kopf, hängte es an den Bildschirm, beendete das Programm und sah, dass auf dem Konto nun vier Gespräche mehr waren. Er tippte das Geheimwort ein und sah zu, wie der Computer sich ausschaltete. Dann stand er auf und reckte sich.
    Sein Gegenüber zog sich einen Kopfhörer vom Ohr und sagte zu ihm: »Computer sagt nein.«
    Sie grinsten sich an, gelassen wie Börsenmakler, und Tim hob zum Abschied die Hand.
    Als er am Ausgang war, sah er zu den Kontrolleuren hinüber und verabschiedete sich stumm. Einer von ihnen machte hinter seinem Namen einen Haken und trug die Uhrzeit ein. Vierzehn Uhr.
    Im grellen Sonnenschein stand er vor seinem Fahrrad, sah zur Hochschule für Musik und Theater, aus der einige der besten Nachwuchsschauspieler Deutschlands kamen, und dachte: So pleite unsere Verbrecherstadt Rostock auch ist, die HMT bleibt absolute Elite. Vielleicht sind die Jungs und Mädels ja sogar froh, für ihre Rollen ein paar Feldstudien in der echten Verbrecherwelt machen zu können? Wer weiß, der weiß!
    Neidisch schloss er das Fahrrad ab und schob es die ersten paar Meter, ehe er sich auf den Sattel schwang und zurück nach Dierkow fuhr. Er freute sich auf die Abgeschiedenheit des Neubauviertels, das für fremde Augen immer wieder nur hässlich war. Für ihn bedeutete es Anonymität, also Einsamkeit und Freiheit. Für ihn war es Lebensmöglichkeit. Die vielen sechsstöckigen Plattenbauten mit den verglasten, angebauten Balkonen, die in Wellenlinien zueinanderstanden, so dass die schmalen Straßen fremde Autofahrer immer wieder zum Staunen brachten, die Nähe, die die Menschen in den

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