French 75: Ein Rostock-Krimi
Zeit ebenfalls zu verlieren. Tim wusste, wovon diese amerikanische Studie sprach, die im »Journal of Personality and Social Psychology« veröffentlich worden war. Man sollte sich den Freundeskreis als eine Ansammlung von Menschen vorstellen, bei der diejenigen in der Mitte die meisten Freunde hatten. Zum Rand hin wurden die sozialen Bindungen weniger, am Rand selbst wirkte alles wie der ausgefranste Ärmel eines alten Pullovers. Wer sich innerhalb einer Gruppe am Rand befand und sich einsam fühlte, hatte oft negative Kontakte zu anderen Personen, die durch diese angesteckt wurden. Die Folge war eine Abwärtsspirale aus Einsamkeit, in die sogar die Freunde der Freunde hineingezogen werden konnten. Weil sich einsame Menschen oft schlecht fühlten und ein negatives Weltbild hatten, reagierten sie auf andere Menschen misstrauisch, was wiederum zur Übertragung der negativen Stimmung führen konnte. Tim wusste, wovon die Rede war. Am Ende blieb man allein und richtete sich ein. Man suchte gar keine anderen Menschen mehr, um sie nicht mit der Einsamkeit anzustecken, man suchte sich eine Arbeit, bei der man keine sozialen Kontakte aufbauen musste. Man wurde Callcenter-Agent.
Er lächelte und unterbrach die Leitung, als er einen Mann hörte, der lachte. Hinter diesem Mann waren anderen Menschen, die ebenfalls lachten. Besser, wenn man vergaß, dass es das Lachen überhaupt gab. Wieder las er ein paar Zeilen des Thrillers, ehe der Apparat für ihn einen weiteren Einsamen ausmachte.
XIV
In jener Langzeitstudie über Freundschaft und Einsamkeit hatten Forscher der Universität von Chicago die Entwicklung der sozialen Beziehungen von fünftausendeinhundert Menschen ausgewertet. Einsamkeit war ein Virus, ansteckend, das Misstrauen erzeugte und das neue Freundschaften erschwerte. Einsamkeit schädigte die Gesundheit, die Gesellschaft trug zur Vereinsamung bei, Tim wusste das alles aus eigener Erfahrung. Er erhob sich vom Stuhl und streckte sich.
Er schaute über die Abblendwände seines Anrufarbeitsplatzes und ließ den Blick über die knapp hundert Callcenter-Agenten schweifen, die in ihren Kabuffen saßen und vor sich hin plapperten. Was für eine Art von Arbeit! Schlimmer als auf einer Galeere, meinte er, weil man hier ohne Blick zum Nachbarn war, ohne Plausch mit dem Kollegen und ohne zielgerichtetes Arbeiten. Jeden Tag wurde die Menschheit befragt, als hinge davon der Wohlstand der Massen ab. Tim zog die Brauen hoch, ließ sich wieder auf den Arbeitsstuhl fallen, rollte ein wenig hin und her und überzeugte eine Schwerhörige von der Lebenswichtigkeit seiner Umfrage. Er schrie so sehr ins Mikrofon, dass seine beiden Nachbarn an die gegenüberliegenden Ränder ihrer Zellen rücken mussten. Sie kamen mit ihren eigenen Fragebögen durcheinander und zerbrachen Zahnstocher zwischen den Fingern. Er beugte sich nach vorn und schrie unter den Monitor: »Welche Tiefkühlkost bevorzugen Sie? Geflügel, Schwein, Rind oder vegetarische Kost?«
»Geflügel«, kam es laut zurück.
»Geflügel, gut. – Also: Ente? Hühner? Oder Pute?«
»Hühner.«
»Huhn, gut. – Also: Brust? Schenkel? Oder Flügel?«
»Brust. – Sagen Sie, geht das noch lange so?«
»Brust, gut. – Nein. – Also: Braten Sie die Brust? Kochen Sie die Brust? Backen Sie die Brust auf?«
»Mal so, mal so.«
»Was würden Sie sagen? ›Meistens brate ich Hühnerbrust, meistens backe ich Hühnerbrust, meistens koche ich Hühnerbrust?‹«
»Meistens brate ich Hühnerbrust.«
»Gut. Und was würden Sie sagen? ›Meistens backe ich Hühnerbrust oder meistens koche ich Hühnerbrust.‹«
»Meistens koche ich. Dann kommt backen.«
»Gut, danke, dann zurück zum Braten: Tauen Sie die Hühnerbrust vorher immer, fast immer, selten oder nie auf?«
»Fast immer.«
»Warum?«
»Wie ›warum‹?«
»Äh, das steht hier nicht.«
»Warum ich die Hühnerbrust auftaue oder warum ich sie fast immer auftaue?«
»Ja, ja, ich hab Sie schon verstanden. Unser System spinnt da.«
»Auch gut, dann lege ich jetzt auf.«
»Moment, Moment! – Ach, Mist«, sagte er und drückte mit der Maustaste auf »abbrechen«.
»Wurde abgebrochen, weil die Zielperson a keine Zeit mehr hatte, b kein Verständnis mehr hatte, c keine Lust mehr hatte, oder d sich nicht mehr kompetent fühlte?«, fragte das Programm. Er drückte wie immer auf »d«, sah den Bildschirm für einen Moment schwarz werden und verfolgte gelassen den Neustart des Systems.
Keine Hühnerbrust gebraten
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