French 75: Ein Rostock-Krimi
die Studenten von seinem Arbeitsplatz aus trainieren sehen, aber Training nannte man das ja nicht, verbesserte sich Tim, es war ein Üben, ein stetiges Üben.
Unter dem Vordach schloss er das Fahrrad an und ging um die Ecke, um ins Bürogebäude zu kommen. Er mochte diese Stadt, in der sich der eine so wenig um den anderen kümmerte. Tim mochte auch die häufig noch immer vollkommen unsanierten Häuser, neben denen die sanierten schon wieder vom Salz des Windes gezeichnet waren. Rostock bestach für ihn durch das Bewusstsein des ewigen und schleichenden Verfalls. Man konnte gegen die See nicht gewinnen, keine Stadt der Welt konnte das, aber man konnte mit der See leben. Man konnte eine Kreuzfahrtgesellschaft gründen und Millionen von Euros in den Hafen bringen. Man konnte den vom Salz zerfressenen Lack immer wieder übermalen, weil man sich das Geld von der See holte. Tim fand, Rostock sei ein Fährschiff, das alle paar Jahrzehnte überholt werden müsse. Er mochte diesen Fährcharakter dieser einzigartigen Stadt. Tim Leidger wusste, dass der Boden von Zeit zu Zeit unter den Füßen zu schwanken begann. Man brauchte ihn nur lange genug anzustarren. Er ging ins Gebäude und meldete sich wenig später zur Arbeit.
Die Tüte mit den Brötchen ließ er auf den Arbeitstisch fallen, schaltete noch im Stehen den PC ein, ließ die Software hochfahren und sah sich im Saal um. Dreiviertel der Plätze waren schon belegt, aber er kannte kaum einen seiner Kollegen. Die meisten waren Studenten und Schüler, ein paar Hausfrauen und Rentner, und hin und wieder gab es einen Arbeitslosen, der es durch irgendwelche Tricks schaffte, sich hier etwas dazuzuverdienen.
Er selbst war einer der wenigen Freiberufler, die sich hier ihre Miete verdienten, um das tun zu können, was sie eigentlich tun wollten. Auch wenn Tim das Geld nicht nötig hatte, kam er doch zwei- bis dreimal in der Woche her, um sich für sechs Stunden das Headset aufzusetzen und wildfremde Menschen in ein Gespräch zu verwickeln.
Mochte er diesen Job? Möglich, es war doch ein guter Ausgleich zu seiner restlichen Zeit, die er schweigend verbrachte. Er hatte keine Freundin, keine Freunde, mit seiner Familie hatte er keinen Kontakt mehr, und ja, Beziehungen waren ihm zuwider. Ihm reichten diese flüchtigen Gespräche mit fremden Leuten, die er manchmal sogar zum Lachen brachte.
Zum Glück gab es einen Stundenlohn, mit fünf Euro natürlich viel zu niedrig. Jedes Gewerkschaftsmitglied würde wütend werden, wenn es diese Summe hörte. Dafür war die Arbeitsatmosphäre hier, im Gegensatz zu anderen Callcentern, entspannt, und das Pensum war immer so angelegt, dass es am Abend erledigt war. So war es nun mal, ging es Tim durch den Kopf, man hatte entweder Geld oder Zeit, aber nur selten beides zusammen. Hatte man jedoch beides zusammen, dann war man einsam. Vereinsamt oder auch tot. Er meldete sich im Programm an und sah durch die Fenster, wie der Frühling die Vögel zu Höchstleistungen antrieb. Er sah sie krakeelen und grinste, ehe er aufs Anzeigenfeld klickte und sich die Fragen für die heutige Studie vorlas, um gleichzeitig die Zeit zu stoppen.
Nach der Standartfrage, welche Partei der Angerufene wählen würde, wenn heute Bundestagswahl wäre, wurden Audifahrer angesprochen, um deren Vorlieben und Kundenwünsche herauszubekommen. Fuhr der Angerufene keinen Audi, ging es direkt weiter zu Tiefkühlkost, falls die Befragte eine Frau war. War es ein Mann, wurde nach der Automarke gefragt. Danach kam der Auflockerungsblock, der sich diesmal mit dem Frühlingsgefühl beschäftigte. Dann wurde nach Alkohol gefragt, und wenn der Angerufene Raucher war, folgte eine lange Liste mit Zigarettensorten zum Selbstdrehen, die nur dazu da war, den Süchtigen an seine Sucht zu erinnern. Es gab zehn verschiedene Sorten der Marke Marlboro. Wenn man den Markennamen zehn Mal sagte, hatte man dem Konzern geholfen, gab es doch nicht wenige Süchtige, die sich erkundigten, was dieses und jenes genau sei.
Werbung per Telefon in einer Meinungsumfrage über Politik versteckt. Das war die Erfolgsmasche seiner Firma, denn wer hatte nichts zur Politik zu sagen? Niemand. Die Industrie ließ sich so eine Umfrage viel Geld kosten, die Politik brauchte gar nichts zu bezahlen, und der Verbraucher bekam das gute Gefühl, einmal seine Meinung zu aktuellen Themen loswerden zu können. In diesem System gab es mit Ausnahme der schlecht bezahlten Callcenter-Agenten keine Verlierer, aber die hatten ja
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