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French 75: Ein Rostock-Krimi

French 75: Ein Rostock-Krimi

Titel: French 75: Ein Rostock-Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard R. Roesch
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keine Lobby.
    Er klickte sich zum Ende der Umfrage durch und sah auf die Zeit. Ein solches Interview würde heute vierzig Minuten dauern. Tim brauchte also nur fünf oder sechs Gesprächspartner, dann wäre seine Arbeitszeit auch schon wieder um. Da verging die Arbeitszeit beim Plaudern doch wie im Fluge. Hatte er Pech, würde er stundenlang nur Absagen kassieren. Dann wäre die Arbeitszeit qualvoll lang.
    Zur Sicherheit packte er sein Buch aus und schob es zum Rand. Dann setzte er sich, streifte sich das Headset über, bog sich das Mikrofon zurecht und goss sich Wasser in die Kaffeetasse, die einen halben Liter Flüssigkeit fassen konnte. Er meldete sich mit dem Passwort an und schaltete den automatischen Anrufsucher ein. Während er sich auf dem Drehstuhl hin und her bewegte, bemerkte er, wie hinter den Arbeitsplatzabblendungen seine Nachbarn und sein Gegenüber dazukamen. Sie grüßten sich wie Börsenmakler, dann war er wieder allein.
    Bei den ersten siebzehn Kontakten wurde er beleidigt und beschimpft. Routiniert schaltete er Mal um Mal weg. Dann war ein alter Mann am Telefon, der schon einige Biere getrunken haben musste. Dabei war es erst halb elf vormittags. Tim fragte ihn, ob er sich für Politik interessiere.
    »Interessieren, interessieren? Ich interessiere mich für meine Invalidenrente, ich bin nämlich seit drei Monaten Invalide, nicht dass du glaubst, ich hab nichts zu tun. Ich bin Invalide! Das hab ich zu tun! Sonst wäre ich hier gar nicht am Telefon. Ich hab nämlich eine Beinprothese, ganz neu, aus England! Hat alles die Krankenkasse bezahlt, kann man nicht meckern, kann man nicht. Von Hause aus bin ich Schreiner, na, nun nicht mehr, nun bin ich gar nichts mehr, nur noch Invalide.«
    »Wen würden Sie denn wählen, wenn man nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre? CDU, SPD, FDP, die Linke oder die Grünen?«
    »Nächsten Sonntag? Da muss ich zu meinem Vater, der liegt schon seit zwölf Jahren im Bett. Hat nichts, tut nichts, liegt nur rum. Nächsten Sonntag kann ich nicht. Da muss ich mit meiner neuen Prothese zu meinem Vater. Bisschen angeben.«
    »CDU? Was für Sie?«
    »Nö.«
    »SPD? Besser?«
    »Nö.«
    »FDP. Oder?«
    »Nö.«
    »Die Linke? Passt?«
    »Nö.«
    »Die Grünen?«
    »Nö. Gibt’s eigentlich noch die Bierpartei? Ne, Biertrinkerpartei, so hieß die. Gibt es die noch?«
    »Ich bedanke mich für das Gespräch und wünsche Ihnen alles Gute«, beendete Tim souverän das Telefonat und hörte nicht mehr darauf, was der Einbeinige noch alles loswerden wollte. Seinetwegen hätte er ihm ja ein Ohr abkauen können, aber er wusste, dass manchmal mitgehört wurde. Allzu nachlässig durfte man auch nicht sein.
    Wenn man feststellte, dass ein Gesprächspartner nicht kooperierte, hatte man das Gespräch freundlich zu beenden. Der Automat wählte sofort neue Nummern, vierzig in einer Minute. Die meisten Menschen waren tagsüber auf Arbeit, oft sprang der Anrufbeantworter an. Erklang der Ton eines Faxgerätes, dann musste Tim sich rasend schnell den Kopfhörer von den Ohren reißen, um sich vor dem Piepen zu schützen. Doch Faxgeräte gab es privat kaum noch. Er fragte sich, wie so oft, wie der Automat es bewerkstelligte, dass er nur private Nummern anwählte. Wie funktionierte das? Wenn er das nur herausbekäme! Er schlug sein Buch auf und las ein paar Zeilen des neuen Thrillers, ehe eine Hausfrau fragte, was er wolle.
    »Guten Tag, ich rufe vom Markt- und Meinungsforschungsinstitut an und hätte da ein paar Fragen an Sie. Wir führen gerade eine Umfrage zu aktuellen Themen durch, und dazu wurde auch Ihr Haushalt zufällig ausgewählt. Und nun würde ich Sie gerne bitten, uns ein paar Fragen zu beantworten.«
    »Wie lange soll der Spaß denn gehen?«
    »Vierzig Minuten, wenn Sie Raucher sind. Wenn nicht, sind es nur zwanzig. Ihre Sache.«
    »Ich bin Raucher! Aber vierzig Minuten ist mir viel zu lange. Nichts für ungut, aber ich hab’ hier vier Mädchen, die schon halb am Verhungern sind. So schreien sie jedenfalls.«
    »Kein Problem! Dann entschuldigen Sie bitte die Störung. Auf Wiederhören.«
    »Auf Wiederhören«, hörte er die Frau noch sagen, ehe sie auflegte. Er machte hinter ihrer Telefonnummer im Kästchen Raucher ein Häkchen. Wieder gab es eine Information, die die Firma verkaufen konnte, und Tim hatte einen Euro neunzig mehr in der Tasche.
    Das Gefühl von Einsamkeit konnte in Menschengruppen ansteckend wirken. Wer einsam war, hatte zudem wenig Freunde und neigte dazu, diese mit der

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