French, Tana
heimlich Rosies Walkman ausgeliehen hatte, und Samstagabend dort
versteckt worden sein. Doch laut Mandy hatte Rosie in diesen zwei Tagen ihre
Schlüssel nicht gehabt, womit mehr oder weniger ausgeschlossen war, dass sie
den Koffer abends unbemerkt aus dem Haus geschafft hatte — sie hätte bis zu
Nummer 16 über schrecklich viele lästige Mauern klettern müssen -, und Matt
Daly hatte sie mit Adleraugen beobachtet, wodurch es praktisch unmöglich für
sie war, etwas so Großes wie den Koffer tagsüber rauszuschmuggeln. Nora hatte
außerdem gesagt, dass Rosie donnerstags und freitags immer zusammen mit Imelda
Tierney zur Arbeit und wieder nach Hause gegangen war.
Am
Freitagabend war Nora mit ihren Freundinnen im Kino gewesen. Rosie hatte das gemeinsame
Zimmer also für sich, vielleicht um zusammen mit Imelda in aller Ruhe zu packen
und Pläne zu schmieden. Imelda ging bei den Dalys ein und aus, es hätte also
niemand großartig auf sie geachtet. Sie hätte praktisch alles, was sie wollte,
aus der Wohnung schleppen können.
Inzwischen
wohnte Imelda auf der Hallows Lane, gerade weit genug vom Faithful Place
entfernt, um nicht mehr von Rockys Rasterblick erfasst zu werden. Und Mandys
Gesichtsausdruck nach zu schließen bestanden gute Chancen, dass Imelda an
einem Werktag zu Hause war und dass ihr Verhältnis zur Nachbarschaft so
durchwachsen war, dass sie vielleicht eine Schwäche für einen verlorenen Sohn
hatte, der nicht mehr ganz drin und auch nicht mehr ganz draußen war. Ich
kippte den letzten Rest kalten Kaffee in mich hinein und ging zu meinem Wagen.
Mein
Kumpel bei den Stadtwerken hatte im Computer eine Imelda Tierney, Hallows Lane
10, Wohnung 3. Das Haus war eine Bruchbude: fehlende Dachpfannen, abblätternde
Farbe an der Tür, schlaffe Gardinen hinter dreckigen Fenstern.
Höchstwahrscheinlich beteten die Nachbarn darum, dass der Vermieter an
irgendeinen netten seriösen Yuppie verkaufte oder das Haus wenigstens
abfackelte, um das Geld von der Versicherung zu kassieren.
Ich hatte
recht gehabt: Imelda war zu Hause. »Francis«, sagte sie, irgendwo zwischen
schockiert und begeistert und entsetzt, als sie die Wohnungstür öffnete.
»Jesses.«
Nicht
eines der zweiundzwanzig Jahre war gut zu Imelda gewesen. Sie war nie eine
Klassefrau gewesen, aber sie war groß und hatte tolle Beine und einen tollen
Gang gehabt, und alles drei zusammen ist ein echtes Pfund. Inzwischen sah sie
aus wie den Serien Baywatch und Crimewatch gleichzeitig entsprungen — gute Figur, verlebtes Gesicht. Sie war
schlank geblieben, hatte aber Tränensäcke unter den Augen, und ihr Gesicht war
mit Falten wie Messernarben übersät. Sie trug einen weißen Trainingsanzug mit
einem Kaffeefleck vorne drauf, und ihre selbstblondierten Haare zeigten etwa
fünf Zentimeter lange erschöpfte Ansätze. Bei meinem Anblick schnellte ihre
Hand hoch, um ihre Frisur in Form zu drücken, als würde allein das genügen, um
uns in die Zeit zurückzukatapultieren, als wir strahlende Teenager gewesen
waren, überschäumend vor Freitagabenderwartungen. Es war diese kleine Geste,
die mir geradewegs ans Herz ging.
Ich sagte:
»Hallo, Melda«, und schenkte ihr mein bestes Grinsen, um sie daran zu erinnern,
dass wir dicke Freunde gewesen waren, damals. Ich hatte Imelda immer gemocht.
Sie war clever gewesen, rastlos, mit einer launischen Ader und einer dicken
Haut, die sie sich schwer verdient hatte: Statt eines dauerhaften Vaters hatte
sie viel zu viele vorübergehende gehabt, einige davon verheiratet mit Frauen,
die nicht ihre Mutter waren, was zur damaligen Zeit echt was hieß. Imelda
hatte sich wegen ihrer Mutter so einiges anhören müssen, als wir Kinder waren.
Die meisten von uns saßen auf die eine oder andere Art im Glashaus, aber ein
arbeitsloser Säufer als Vater war längst nicht so schlimm wie eine Ma, die Sex
hatte.
Imelda
sagte: »Ich hab das mit Kevin gehört, Gott hab ihn selig. Tut mir furchtbar
leid, was ihr durchmacht.«
»Gott hab
ihn selig«, pflichtete ich bei. »Wo ich schon mal wieder in der Gegend bin, dachte
ich, ich schau auf einen Sprung bei ein paar alten Freunden vorbei.«
Ich blieb
im Türrahmen stehen, wartete. Imelda warf einen raschen Blick über ihre
Schulter, aber ich rührte mich nicht, und sie hatte keine andere Wahl. Nach
einer Sekunde sagte sie: »Die Wohnung ist ziemlich chaotisch —«
»Glaubst
du, das stört mich? Du solltest mal meine Bude sehen. Es ist wirklich schön,
dich wiederzusehen.«
Als ich zu
Ende
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