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French, Tana

French, Tana

Titel: French, Tana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sterbenskalt
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ist.«
    Multitasking
ist für mich kein Problem. Die Tatsache, dass ich es darauf anlegte, sie aus
der Reserve zu locken, änderte nichts daran, dass ich jedes Wort ehrlich
meinte. Nora betrachtete mich; im Halbdunkel sahen ihre Augen übergroß und
bekümmert aus. Sie sagte: »Ich hab nicht mitbekommen, was der Auslöser war,
Francis. Aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass dein Dad mit meiner
Ma geredet hat.«
    Und da war
es. Einfach so, als würden Zahnräder ineinandergreifen und sich in Bewegung
setzen, kreisten und surrten Dutzende Kleinigkeiten aus meiner Kindheit los und
fügten sich nahtlos zusammen. Ich hatte mir hundert mögliche Erklärungen
überlegt, die immer komplizierter und unwahrscheinlicher geworden waren -
hatte Matt Daly die halbillegalen Aktivitäten meines Vaters angezeigt, oder
gab es irgendeinen Erbschaftszwist bis zurück zu der Frage, wer wem in der Zeit
der Großen Hungersnot die letzte Kartoffel geklaut hatte? -, aber nie war mir
der eine Grund in den Sinn gekommen, auf den praktisch jeder Streit zwischen
zwei Männern zurückzuführen ist, vor allem die richtig bösartigen: eine Frau.
Ich sagte: »Die beiden hatten mal was miteinander.«
    Ich sah
ihre Wimpern flattern, schnell und verlegen. Es war zu dunkel, um ganz sicher
zu sein, aber ich hätte gewettet, dass sie rot wurde. »Ich glaub schon, ja. Das
hat mir nie einer so direkt gesagt, aber ... ich bin fast sicher.«
    »Wann?«
    »Ach, vor
einer Ewigkeit, ehe sie verheiratet waren - es war keine Affäre oder so.
Bloß eine Jugendliebe.«
    Was es auf
keinen Fall unbedeutend machte, wie ich besser als jeder andere wusste. »Und
was ist dann passiert?«
    Ich
rechnete damit, dass Nora irgendwelche unsäglichen Gewalttätigkeiten
schilderte, wahrscheinlich inklusive Strangulation, aber sie schüttelte den
Kopf. »Ich weiß es nicht, Francis. Ehrlich. Wie gesagt, keiner hat je mit mir
darüber geredet. Ich hab's mir einfach selbst zusammengereimt.«
    Ich beugte
mich vor, drückte meine Zigarette im Kies aus und schob die Kippe zurück in die
Packung. »Also ehrlich«, sagte ich, »auf die Idee bin ich nie gekommen. Ganz
schön blöd von mir.«
    »Wieso ...
? Ich hätte nicht gedacht, dass dich das überhaupt interessiert.«
    »Du
meinst, wieso interessiert mich überhaupt irgendwas, was hier passiert, wo ich
mich doch über zwanzig Jahre lang nicht mehr hab blicken lassen?«
    Sie
starrte mich noch immer an, besorgt und verwirrt. Der Mond war hervorgekommen;
in dem kalten Dämmerlicht sah der Garten rein und unwirklich aus, wie eine
symmetrische, spießige Vorhölle. Ich sagte: »Nora, verrat mir eins. Hältst du
mich für einen Mörder?«
    Ich war
entsetzt, wie dringend ich mir wünschte, dass sie nein sagte. Und in dem Moment
wurde mir klar, dass ich aufstehen und gehen sollte - ich hatte ihr schon
alles entlockt, was sie mir verraten konnte, jede Sekunde länger war gefährlich.
Nora sagte schlicht und sachlich: »Nein. Das hab ich nie.«
    Irgendetwas
in mir krampfte sich zusammen. Ich sagte: »Anscheinend sehen das eine ganze
Reihe Leute anders.«
    Sie
schüttelte den Kopf. »Einmal, als ich noch ganz klein war, vielleicht fünf oder
sechs, hatte ich ein Junges von Sallie Hearnes Katze zum Spielen mit auf die
Straße genommen, und ein paar große Jungs kamen vorbei und nahmen es mir weg,
um mich zu ärgern. Sie warfen es hin und her, und ich hab gebrüllt wie am Spieß
... Dann bist du gekommen und hast mir geholfen. Du hast ihnen das Kätzchen
abgenommen und mir gesagt, ich sollte es zurück zu den Hearnes bringen. Du
erinnerst dich bestimmt nicht mehr daran.«
    »Doch,
doch«, sagte ich. Das wortlose Flehen in ihren Augen: Sie wünschte sich
sehnlich, dass wir beide die Erinnerung teilten, und von all ihren Wünschen
konnte ich ihr nur diesen einen kleinen erfüllen. »Natürlich erinnere ich
mich.«
    »Bei
jemandem, der so was tut, kann ich mir nicht vorstellen, dass er irgendwem ein
Haar krümmen würde, jedenfalls nicht absichtlich. Vielleicht bin ich ja bloß
naiv.«
    Wieder
dieser Krampf, diesmal schmerzhafter. »Nicht naiv«, sagte ich. »Aber lieb«,
sagte ich. »Einfach lieb. Ungeheuer lieb.«
    In dem
Licht sah sie aus wie ein Mädchen, wie ein Geist, sie sah aus wie eine
atemberaubende Schwarzweiß-Rosie, die für ein hauchdünnes Scheibchen Zeit aus
einem flackernden alten Film entstiegen war oder einem Traum. Ich wusste, wenn
ich sie berührte, würde sie verschwinden, sich von einem Augenblick auf den
anderen

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