Freunde müssen töten - Thriller (German Edition)
Passage gesehen hatte. Doch als sie oben aus dem Lift stieg und die Lichter von Bratislava durch die Panoramafenster strahlten, war alles wieder vergessen. Aufgeregt wies sie auf das Firmenschild, sprang in die Luft und klatschte vor Freude in die Hände. Dann strich sie ehrfurchtsvoll über die aufgeklebte Folie: eine weinende Kitschmadonna, darunter in geschwungenen Buchstaben der Firmenname: Madonna Models.
Dass irgendjemand der Madonna die Augen ausgekratzt hatte, bemerkte sie in ihrer Euphorie nicht.
7. Ein Taubenmann verzaubert
„Ich will einfach davonfliegen, genau wie sie!“ Mit den Zähnen öffnete Jimmy den Sack mit dem Vogelfutter, schüttete vorsichtig eine Handvoll Körner in die bunten Schälchen, die mit kleinen Haken an dem Maschendraht befestigt waren. Dann schlurfte er bis an den Rand des Flachdachs, streckte die Arme waagrecht zur Seite.
„Wäre schön, wenn ich so durch die Luft kreisen könnte wie deine Tauben!“
Hinter sich hörte Jimmy die beruhigende Stimme von Phil, die sich mit dem leisen Gurren der Tauben zu einer entspannten Soundcollage vermischte: „Fliegen ist nicht so wichtig. Du musst sie erziehen, dass sie immer wieder zurückkommen, immer bei dir bleiben. Sie müssen wissen, wo ihr Zuhause ist.“
Wie immer trug Phil seinen schmutzstarrenden Mantel und stank durchdringend nach Pisse und Schnaps. Doch daran hatte sich Jimmy schon gewöhnt und wenn er Phil bei der Arbeit zusehen konnte, war er glücklich. In Momenten wie diesem, wenn seine Gedanken grenzenlos wie die schwerelosen Taubenfedern durch die Luft segelten, hatte Jimmy kein schlechtes Gewissen. Er war zwar drei Tage hintereinander nicht in der Schule gewesen und wenn seine Mutter dahinterkam, dann gab es hundertprozentig einen Riesenkrach. Doch Phil und die Tauben waren wichtiger und schließlich war Jimmy ja schon dreizehn Jahre alt und konnte durchaus selbst entscheiden, was wichtig für ihn war und was nicht. Und jeden Tag die langweilige Schulbank zu drücken, war definitiv nicht wichtig!
Da fühlte er sich hier oben auf dem Dach des leer stehenden ehemaligen Logistik-Centers in der Industriezeile am Hafen schon bedeutend wohler. Die rostigen Eisenlamellen der seit Jahren nicht mehr benutzten Klimaanlagen klapperten und ächzten und die aus grobem Holz gezimmerten Verschläge für die Tauben schwankten bedenklich im kalten Wind. Eigentlich nicht sehr gemütlich, aber Jimmy liebte dieses heruntergekommene Ambiente, das ihm einen Hauch von Freiheit vermittelte. Eine bisher unbekannte Freiheit, die ihm seine Mutter nicht zugestehen wollte. Denn seine Mutter hatte panische Angst, dass ihm etwas zustoßen könnte, und ihre Paranoia nahm schon bedenkliche Formen an. Jeder Erwachsene war für sie ein potenzieller Kinderverführer. Bei dem Gedanken, dass seine Mutter einmal Phil zu Gesicht bekommen würde, musste Jimmy unwillkürlich grinsen.
Zum ersten Mal hatte er Phil vor dem Center bemerkt, an einem jener langweiligen Tage, an denen er die Schule geschwänzt hatte. Jimmy hatte sich im Hafenviertel herumgetrieben und war schließlich auf dem verkommenen Parkplatz gelandet, wo Türken und Albaner, Österreicher, Nigerianer und Vietnamesen vom Autoreifen bis zum Taschenrechner alles verkauften, was sich auch nur irgendwie zu Geld machen ließ.
Mit großen Augen hatte sich Jimmy durch die Menschenmassen aus aller Herren Länder treiben lassen und den Lärm, den die Händler verursachten, genossen. Unter dem Dach des mit Brettern verrammelten Haupteingangs hatte dann ein langer Tisch sein Interesse geweckt, auf dem nur kleine Körner lagen. Körner in Form von Kreisen und von Kreuzen. Körner wie Sternenstaub, die Jimmy an die Milchstraße erinnerten und an die gekiesten Wege in den heißen Sommern seiner Kindheit, in denen alles überbelichtet wirkte, wie in einem alten Film, einer Kindheit, in der er noch gewusst hatte, wie ein echtes Zuhause war.
Der alte Mann hinter dem Tisch hatte zwar ein wenig merkwürdig ausgesehen mit seinem über und über mit Vogelscheiße verklebtem Mantel, aber sein vom Schnaps verwüstetes hochrotes Gesicht hatte auf Jimmy offen und freundlich gewirkt. Geschäftig hatte er Jimmy zu sich gewinkt, noch schnell einen kräftigen Schluck aus einem abgegriffenen Flachmann gekippt, um dann theatralisch wie ein Zauberer mit seiner Vorführung zu beginnen.
„Hochverehrtes Publikum!“, hatte er gerufen und dabei mit seinen verquollenen, blutunterlaufenen Augen Jimmy verschwörerisch
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