Freunde müssen töten - Thriller (German Edition)
fuhr sie sich mit der Zungenspitze über ihre grotesk aufgespritzten Lippen, so lange, bis der Speichel auf ihr Kinn tropfte. Irritiert drückte Braun die Frau zur Seite, die Situation war mehr als peinlich, doch da kam ihm auch schon Goldmann zu Hilfe.
„Ist schon in Ordnung, Camilla! Halte den Inspektor nicht auf, er hat noch zu arbeiten!“
„Sind Sie Polizist?“, hauchte die Frau und wollte sich enger an Braun schmiegen, doch Goldmann fasste sie resolut um die Hüfte und schob sie auf den Gang.
„Hau ab, du Schlampe!“, zischte Goldmann.
„Natürlich, Herr Doktor. Natürlich“, sagte die Frau gehorsam wie eine Schülerin und stöckelte hysterisch lachend langsam den gläsernen Gang hinunter.
Als Braun in Goldmanns Büro trat, lag auf dem Schreibtisch noch ein schwarzer Slip, den Goldmann wütend packte und damit hinaus auf den Gang lief.
„Camilla!“, hörte ihn Braun rufen. „Du hast schon wieder deinen Slip vergessen!“
Immer wenn er bei Goldmann war, verspürte Braun ein unglaubliches Verlangen nach einem kühlen Bier. Das konnte zwar an dem überheizten Raum liegen, aber Braun wusste natürlich, dass er Goldmann gerne gesagt hätte, dass einige Dosen Bier wesentlich klüger waren als das nervige Analysieren und die Tabletten.
„Wer war die Frau?“, fragte Braun neugierig, als Goldmann wieder hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte und mit der rechten Handfläche über die Taubenfedern strich, die in der Styroporkugel auf seinem Schreibtisch steckten.
„Das war Camilla, eine Privatpatientin von mir“, erwiderte Goldmann einsilbig und streifte immer schneller über die Federn.
Goldmann holte dann eine dünne Mappe aus einer Schublade seines Schreibtisches. „Das Gutachten über Gregor Pestalozzi. Deswegen sind Sie doch hier!“
Geschäftig schlug er seine Mappe auf.
„Gregor Pestalozzi leidet an dem Asperger-Syndrom. Das wissen Sie ja bereits.“ Er sah Braun fragend an und dieser nickte zustimmend.
„Pestalozzi zieht sich in seine eigene Welt zurück und entwickelt Wahnvorstellungen.“
Goldmann machte eine kurze Pause, zupfte gedankenverloren an einer Feder in seiner Styroporkugel, während er in dem Gutachten blätterte. Für Braun war Goldmann der typische Klinikleiter, der sich um die betuchte Klientel kümmerte. Er war um die sechzig, hatte kurze graue Haare und ein Raubvogelgesicht mit angriffslustig vorspringender Hakennase und pechschwarzen Augen, die Braun an glimmende Kohlestücke erinnerten. Wie alle Männer in seiner Position bevorzugte er einen unaufdringlichen Businesslook, über dem er jetzt aber einen weißen Ärztemantel trug. Das einzige Irritierende an Goldmann waren seine klobigen Schuhe, die Braun auch früher schon aufgefallen waren. Jetzt bemerkte er, dass bei dem linken Schuh der Absatz deutlich höher war als bei dem rechten. Goldmann hatte ein kürzeres Bein.
„Ein Unfall in meiner Jugend. Ich war damals in Nepal auf einer Trekking-Tour und bin in eine Schlucht gestürzt. Die Sherpas haben mich herausgezerrt, aber das Bein war zerschmettert und dort oben gab es keine ordentliche medizinische Versorgung, wie Sie sich denken können.“ Goldmann war Brauns Blick natürlich aufgefallen. Nach der lapidaren Erklärung räusperte er sich und sah Braun fragend an.
„Welche Wahnvorstellungen meinen Sie?“, kam Braun wieder auf das eigentliche Thema der Besprechung zurück.
„In seiner Welt ist er Bobby Fischer, der frühere Schachweltmeister.“
„Natürlich!“, rief Braun und pfiff zwischen den Zähnen durch. „Deshalb die merkwürdigen Buchstaben und Zahlen, die er ständig aufgesagt hat. Er spielt in Gedanken die Partien von Fischer nach.“
„Sie sind ein kluger Kopf, Chefinspektor.“ Goldmann nickte anerkennend. „Wie Fischer trägt Pestalozzi jetzt ein Ringelshirt und eine verspiegelte Sonnenbrille. Sein Leben pendelt zwischen dem 11. Juli und dem 1. September 1972 hin und her. Die restliche Zeit spielt für ihn keine Rolle.“
„Wieso 1972? Da war er ja noch überhaupt nicht auf der Welt?“, warf Braun ein.
„In diesem Zeitraum war die Schachweltmeisterschaft in Reykjavik.“
„Laut Ihrem Gutachten halten Sie Pestalozzi also für schuldig? Können Sie diese Tatsache bei der Pressekonferenz auch ganz einfach begründen?“, fragte Braun. „Sie verstehen schon, kein abgehobenes Kauderwelsch.“
„Natürlich! Vertrauen Sie mir, Chefinspektor Braun.“ Goldmann lächelte nachsichtig. „Von Fischer wurde immer wieder gesagt,
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