Frevel: Roman (German Edition)
persönlich.«
Gegen elf Uhr trete ich in einen derart goldenen Herbstmorgen hinaus, als wolle die sonst stets nur halbherzig scheinende englische Sonne uns nachträglich für ihre Abwesenheit während des kalten, feuchten Sommers entschädigen. Im Garten von Salisbury Court prangen die Bäume in einem Farbenmeer, das sich leuchtend vom Blau des Himmels abhebt: Karminrot, Ocker, Bernstein und Zartgrün, ein Überbleibsel des Sommers. Alles ist so bunt wie die Seidengewänder, die Sidney und seine Freunde bei Hof tragen. Ich selbst bin wie jeden Tag in Schwarz gekleidet; ein einsamer dunkler Schatten in dieser farbenfrohen Landschaft. Elf Jahre lang habe ich die schwarze Kutte der Dominikaner getragen; später, als ich mir meinen Lebensunterhalt dadurch verdient habe, dass ich an den Universitäten Europas lehrte, legte ich die schwarze Robe der Gelehrten und Akademiker an. Jetzt, da ich von derartigen Zwängen frei bin, bevorzuge ich immer noch Schwarz, es erspart mir die Mühe, groß über meine Kleidung nachdenken zu müssen. Für Mode habe ich mich nie interessiert; manchmal frage ich mich, wie sich die jungen Gecken in ihren auffallenden Kostümen überhaupt bewegen können – den ballonartig aufgeplusterten Kniehosen, den geschlitzten Ärmeln, unter denen kostbare Leinenwäsche in Kontrastfarben aufblitzt, oder den ausladenden gestärkten Halskrausen, die den Träger fast erwürgen. Mein einziges Zugeständnis an die Tatsache, dass ich jetzt dank Walsingham über mehr Geld verfüge als früher, besteht darin, dass ich mir Kleider von guter Qualität leiste. Meine Hemden sind aus feinstem Leinen gefertigt, und darüber trage ich ein weiches schwarzes Lederwams. Sidney zieht mich damit auf, dass ich jedes Mal, wenn er mich sieht, dasselbe anhabe. Tatsächlich besitze ich aber fast alle meine Kleidungsstücke in mehrfacher Ausführung, ich lege großen Wert auf Sauberkeit und wechsele meine Wäsche weit häufiger als die meisten Engländer, die ich kenne. Vielleicht rührt das von den Monaten her, die ich auf der Flucht vor der Inquisition auf der Straße verbracht habe, nachdem ich aus dem Kloster in Neapel entkommen war. Damals musste ich in schäbigen Gasthäusern in der Gesellschaft von Ratten und Läusen nächtigen und manchmal nur mit dem, was ich am Leibe trug, pro Tag viele Meilen zu Fuß zurücklegen, um einen ausreichend großen Abstand zwischen mir und Rom zu legen. Ich brauche nur flüchtig an diesen Abschnitt meines Lebens zurückzudenken, und schon verspüre ich das Bedürfnis, mich am ganzen Körper zu kratzen und schleunigst mein Hemd zu wechseln.
Mit einem ungeöffneten Buch in der Hand schlendere ich im Garten mitten durch die überall verstreuten Muster leuchtender Laubblätter, während der Morgen allmählich wärmer wird. Hinter der Mauer höre ich die Rufe der Bootsmänner auf dem Fluss und das sanfte Plätschern, mit dem die Wellen über das schlammige Ufer rollen. Fowler hat mich in seiner kurzen Nachricht gebeten, ihn heute um drei Uhr in der »Meerjungfrau« zu treffen, einer Schänke in Cheapside; bis Dumas mit der Abschrift der geheimen Briefe des Botschafters fertig und bereit ist, sie zu dem jungen Master Throckmorton zu bringen, habe ich nichts zu tun. Wenn das Glück uns hold und die Zeit auf unserer Seite ist, können wir die Briefe auf dem Weg bei Walsinghams Vertrauten Thomas Phelippes in der Leadenhall Street abgeben, damit er sie öffnet, kopiert und wieder versiegelt, und dann kann Dumas die Originale zum Paul’s Wharf tragen, während ich die Kopien zu Fowler in die Schänke bringe.
Ich hatte den Morgen in meiner Kammer verbracht und versucht, mit meinem Buch weiterzukommen. Seit meiner Rückkehr aus Oxford im Frühjahr ist das meine Hauptbeschäftigung – dieses Werk, von dem ich glaube, dass es alles bisherige Wissen der europäischen Akademien auf den Kopf stellen wird. So wie Kopernikus’ Theorie, dass die Sonne und nicht die Erde den Mittelpunkt des bislang bekannten Universums bildet, im ganzen Christentum Wellen geschlagen und jeden Kosmologen und Astronomen gezwungen hat, das zu überdenken, was sie bislang für Tatsachen gehalten haben, so stellt meine Abhandlung ein neues, erleuchtetes Verständnis der Religion dar und wird hoffentlich den Männern und Frauen die Augen öffnen, die den Verstand haben zu begreifen, worauf ich hinauswill. Meine Philosophie ist eine revolutionäre Deutung der Beziehung zwischen den Menschen und dem, den wir Gott nennen; eine
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