Frevelopfer
jüngeren Jahren dunkelhaarig gewesen war. Die braunen Augen deuteten darauf hin.
»Wer? Aðalheiður?«
»Ja. Sie haben sie am Meer unterhalb des Friedhofs gefunden«, sagte Kristjana und klang, als ob sie über das Wetter redete. »Sie ist ins Wasser gegangen.«
»Sie hat Selbstmord begangen?«
»Ja. Das war ganz eindeutig.«
»Weißt du, weshalb?«
»Weshalb sie sich umgebracht hat? Keine Ahnung. Sie muss sich elend gefühlt haben, das arme Ding. Es muss ihr schlecht gegangen sein, sonst hätte sie es ja nicht getan.«
Einunddreißig
Bei Tageslicht konnte sich Elínborg die Lage des Friedhofs besser vergegenwärtigen. Er befand sich im Norden des Dorfs direkt am Meer und war von einer niedrigen geschichteten Steinmauer umgeben, die wohl schon länger nicht mehr instand gehalten wurde. Steine waren herausgebrochen, und an einigen Stellen war sie unter dem hohen vertrockneten Gras gar nicht mehr zu sehen. In einer Ecke des Friedhofs stand eine freundliche Landkirche mit niedrigem Turm, weiß angestrichen und mit rotem Wellblechdach. Das Tor zum Friedhof stand halb offen. Elínborg fand das Grab ohne Schwierigkeiten wieder. Hier und dort lagen moosbewachsene Grabsteine auf der kalten Erde, deren Aufschriften verwittert und unleserlich waren. Andere standen noch aufrecht und trotzten Wind und Wetter, und überall dazwischen sah Elínborg bescheidene weiße Holzkreuze wie das auf Aðalheiðurs Grab.
Es war in jeder Hinsicht schlicht. Eine einfache Plakette gab Auskunft über ihr Geburts- und Todesdatum. »Ruhe in Frieden« stand darunter. Elínborg stellte fest, dass Aðalheiðurs Geburtsdatum mit dem Tag übereinstimmte, an dem Runólfur ermordet worden war. Sie sah zum schwer verhangenen Himmel auf. An diesem Ort herrschte Windstille, und das Meer war glatt. Der Fjord, umgeben von herbstlichen Bergen so weit das Auge reichte, strahlte eine stille Ruhe aus, die nur von einer umherirrenden Drossel durchbrochen wurde. Sie ließ sich für einen Moment auf der Kirchturmspitze nieder, bevor sie sich wieder in die Lüfte erhob und auf die Berge zuflog.
Elínborg spürte, dass sie nicht mehr allein war. Als sie zur Straße hochblickte, sah sie das Mädchen in dem blauen Anorak dort stehen. Beide verharrten eine Weile schweigend, dann gab sich das Mädchen einen Ruck, ging zum Friedhof hinunter und kletterte über die Mauer.
»Ein schöner Ort«, bemerkte Elínborg.
»Ja«, sagte das Mädchen, »es ist der schönste Platz im ganzen Dorf.«
»Die Leute wussten, was sie taten, als sie diesen Ort für den Friedhof wählten«, sagte Elínborg. »Danke übrigens, dass du mich heute Nacht allein hier zurückgelassen hast«, fügte sie hinzu.
»Entschuldige«, sagte das Mädchen. »Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Und ich weiß immer noch nicht, was ich tun soll. Als du wieder ins Dorf kamst …«
»Wusstest du, dass ich wiederkommen würde?«, fragte Elínborg.
»Es hat mich nicht gewundert. Ich habe eigentlich mit dir gerechnet. Ich habe darauf gewartet, dass du wiederkommst.«
»Sag mir, was dich bedrückt, dir liegt doch etwas auf dem Herzen.«
»Ich habe gesehen, dass du zu Kristjana gegangen bist.«
»Euch hier im Dorf entgeht wohl nichts.«
»Ich habe dir nicht nachspioniert, ich habe es nur gesehen. Sie weiß ganz genau, was passiert ist. Hat sie es dir gesagt?«
»Was ist passiert?«
»Alle wissen es.«
»Was wissen sie? Und wer bist du überhaupt? Vielleicht sagst du mir deinen Namen?«
»Ich heiße Vala.«
»Wozu diese Geheimnistuerei, Vala?«
»Ich glaube, die meisten wissen, was passiert ist, aber sie würden nie darüber reden. Und ich will das im Grunde genommen auch nicht, ich möchte ihn nicht in Schwierigkeiten bringen. Deswegen … Ich weiß nicht, ob ich mit dir reden soll. Aber … dieses Schweigen ist unerträglich, ich halte es nicht länger aus.«
»Weshalb sagst du mir nicht, was dir auf der Seele liegt? Dann sehen wir weiter. Wovor hast du Angst?«
»Niemand hier redet darüber«, sagte Vala, »und ich möchte niemanden in Schwierigkeiten bringen.«
»Was? Wen denn?«
»Alle schweigen und tun, als sei nichts vorgefallen, als sei hier nichts passiert. Als sei alles in schönster Ordnung.«
»Aber das ist es nicht?«
»Nein, das ist es nicht.«
»Wie ist es denn? Weshalb hast du mich hierhergebracht?«
Das Mädchen antwortete ihr nicht.
»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«, fragte Elínborg.
»Ich bin keine von diesen Klatschtanten, ich will nicht schlecht
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