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Frevelopfer

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Titel: Frevelopfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indriðason
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über die Leute reden, vor allem nicht über Verstorbene.«
    »Niemand braucht zu erfahren, über was wir gesprochen haben«, sagte Elínborg.
    Vala wechselte plötzlich das Thema. »Bist du schon lange bei der Polizei?«
    »Ja, lange genug.«
    »Das muss doch eine trostlose Arbeit sein.«
    »Nein. Nur manchmal vielleicht. Wenn man in einen rätselhaften Ort wie diesen geschickt wird. Aber es gibt auch bessere Zeiten, vor allem wenn man ein Mädchen wie dich trifft und glaubt, dass man ihr helfen kann. Wer ist gestorben, über den du nicht schlecht reden willst?«
    »Ich habe das Gymnasium nicht beendet«, sagte das Mädchen und zögerte immer noch mit der Antwort auf Elínborgs Frage. »Vielleicht mache ich das aber noch und studiere dann. Ich möchte gern etwas lernen.«
    »Wer war Aðalheiður, die hier begraben liegt?«, fragte Elínborg und blickte auf das Kreuz.
    »Ich war noch ein Kind, als es passiert ist.«
    »Was passiert ist?«
    »Ich glaube, ich war acht oder so, aber gehört habe ich erst davon, als ich zwölf oder dreizehn war. Da waren alle möglichen merkwürdigen Geschichten im Umlauf, und ich erinnere mich, dass ich sie traurig fand, aber gleichzeitig auch seltsam aufregend. Sie war angeblich nicht mehr ganz zurechnungsfähig, weil sie eine Krankheit im Kopf bekommen hatte. Sie arbeitete nicht voll, sondern führte ihrem Bruder den Haushalt, und sie war seltsam. Sie ging überhaupt nicht unter die Leute, sprach nicht mit anderen. Irgendwie war sie völlig isoliert vom Dorfleben und hatte eigentlich zu niemandem Kontakt außer zu ihrem Bruder, der sich unglaublich lieb um sie gekümmert hat, nachdem sie krank wurde. Oder zumindest habe ich immer geglaubt, dass sie krank geworden war, das hatte man mir als Kind gesagt. Die Addý ist krank, die arme Frau. Sie war in meinen Augen eine Erwachsene, zwölf Jahre älter als ich. Wir haben im gleichen Monat Geburtstag, es sind nur fünf Tage dazwischen. Als es passierte, war sie so alt wie ich jetzt.«
    »Kanntest du sie?«
    »Ja, wir haben zusammen in der Fischfabrik gearbeitet. Zwischen uns gab es natürlich einen Altersunterschied, und es war sehr schwierig, an sie heranzukommen. Mir wurde gesagt, dass das immer schon ihre Art gewesen wäre, sie wäre ein bisschen besonders, eine Einzelgängerin, die sich nicht viel mit anderen abgibt. Die anderen haben sich auch nicht mit ihr abgegeben. Sie war schwächlich und überempfindlich. Sie hielt sich immer im Hintergrund. Ein leichtes Opfer, denke ich.«
    Vala holte tief Atem. Elínborg spürte, dass sie mit sich rang.
    »Und dann, als ich älter wurde, habe ich verschiedenes andere über sie gehört und über das, was ihr widerfahren ist. Einige wussten davon und schwiegen. Vielleicht fanden sie es peinlich. Oder schändlich. Oder entsetzlich. Es hat wohl einige Jahre gedauert, bis es sich überall im Ort herumgesprochen hatte, aber inzwischen wissen es alle. Ich habe keine Ahnung, wie diese Gerüchte in Umlauf gekommen sind, denn die Addý hat selbst nie etwas gesagt. Sie hat auch nie Anzeige erstattet. Vielleicht hat er davon erzählt, wenn er getrunken hatte. Vielleicht hat er sich sogar damit gebrüstet. Irgendwie glaube ich nämlich nicht, dass er Reue verspürt hat.«
    Vala schwieg eine Weile. Elínborg wartete geduldig darauf, dass sie ihre Geschichte fortsetzte.
    »Sie hat nie jemandem gesagt, was passiert ist, höchstens vielleicht ganz zum Schluss ihrem Bruder. Doch ich glaube, dass ihm zu diesem Zeitpunkt längst etwas davon zu Ohren gekommen war. Sie lebte mit einer Schande, die sie sich selbst eingeredet hatte. Ich habe viel über Frauen wie sie gelesen. Die allermeisten brauchen eine spezielle Therapie. Es heißt, dass sie sich selbst Vorwürfe machen. Sie leben mit einem ohnmächtigen Zorn, sie isolieren sich.«
    »Was ist passiert?«
    »Er hat sie vergewaltigt.«
    Vala starrte auf das Kreuz.
    »So nach und nach sprach es sich herum, dass sie vergewaltigt worden war und wer es getan hatte, aber sie sagte nie ein Wort. Niemand wurde angezeigt, niemand zur Verantwortung gezogen. Und niemand hat etwas getan, um ihr zu helfen«, sagte sie.
    »Wer war das?«, fragte Elínborg. »Wer hat sie vergewaltigt?«
    »Ich bin mir ganz sicher, dass Kristjana weiß, was er getan hat. Sie weiß, was ihr Sohn getan hat. Sie gibt sich alle Mühe, es zu verdrängen. Es ist nicht leicht für sie hier am Ort. Sogar die Kinder machen ihr das Leben schwer und schlagen ihr die Scheiben ein.«
    »Du sprichst also von

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