Frevelopfer
hatte es geschneit. Sie wusste weder, ob sie dieses Mädchen noch einmal wiedersehen würde, noch, weshalb es sie zu dem Grab auf dem Friedhof geführt hatte. Auf dem Kreuz hatte der Name einer Frau gestanden, an die Elínborg jetzt denken musste. Die Frau lag dort unter der Erde, und sie sah noch die Blumen vor sich, die jemand kürzlich aufs Grab gelegt hatte. Unter dem Kreuz lag aber auch eine Geschichte begraben, die sie nicht kannte.
Elínborg blieb noch eine Weile in ihrem Zimmer, telefonierte mit Reykjavík und bereitete sich auf den Tag vor. Erst nach eins schlenderte sie zum Dorflokal. Dort war immer noch einiges los, obwohl der eigentliche Mittagsbetrieb schon vorüber war. Lauga hatte sogar eine Assistentin in der Küche. Elínborg bestellte sich gebratenen Speck mit Spiegeleiern und Kaffee. Sie hatte das Gefühl, dass die Leute sie wie einen Fremdkörper anstarrten, aber sie nahm es nicht weiter tragisch. Sie hatte keine Eile, aß ihre Mahlzeit in aller Ruhe, trank noch eine zweite Tasse Kaffee und beobachtete, was um sie herum vorging.
Lauga räumte Elínborgs Teller ab und wischte über den Tisch.
»Weißt du schon, wann du wieder nach Reykjavík zurückfährst?«, fragte sie.
»Das hängt von verschiedenen Dingen ab«, antwortete Elínborg. »Das Dorf hier hat doch das eine oder andere zu bieten, auch wenn hier angeblich nie etwas passiert.«
»Tatsächlich?«, sagte Lauga. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass du die ganze Nacht unterwegs warst.«
»Ach ja?«
»Dorfklatsch«, sagte Lauga. »Davon gibt’s genug. Man sollte nicht alles glauben, was in so einem Dorf geredet wird. Du gibst doch nichts auf Dorfklatsch?«
»Nein, er interessiert mich nicht«, sagte Elínborg. »Wird es heute schneien?«, fragte sie und sah zum Fenster hinaus. Der schwer verhangene Himmel gefiel ihr nicht.
»So lautet die Wettervorhersage«, entgegnete Lauga. »Für heute Abend und Nacht haben sie ein Unwetter prophezeit.«
Inzwischen hatten alle anderen Gäste das Lokal verlassen. Elínborg stand auf.
»Niemand hat etwas davon, wenn zu viel in der Vergangenheit herumgewühlt wird«, sagte Lauga. »Das ist alles begraben und vergessen.«
»Apropos Vergangenheit«, sagte Elínborg. »Du hast doch sicher ein Mädchen gekannt, das Aðalheiður hieß und hier im Dorf gelebt hat? Sie ist vor zwei Jahren gestorben.«
Lauga zögerte ein wenig.
»Doch, ja, ich weiß, wer sie ist«, sagte sie schließlich.
»Warum ist sie so jung gestorben?«
»Warum?«, wiederholte Lauga. »Ich habe kein Interesse daran, darüber zu sprechen.«
»Weshalb nicht?«
»Ich möchte das einfach nicht.«
»Kannst du mir jemanden aus ihrer Familie oder ihrem Freundeskreis nennen, irgendwen, mit dem ich mich unterhalten könnte?«
»Da kann ich dir nicht weiterhelfen. Ich betreibe dieses Lokal, das ist meine Aufgabe. Es ist nicht meine Aufgabe, Fremden Geschichten zu erzählen.«
»Vielen Dank«, sagte Elínborg, ging zur Tür und öffnete sie. Lauga stand mitten im Raum und sah ihr nach, als wolle sie noch etwas hinzufügen.
»Ich glaube, du würdest allen einen Gefallen tun, wenn du nach Reykjavík zurückfahren und nie wieder herkommen würdest«, sagte Lauga.
»Wem würde ich damit einen Gefallen tun?«
»Uns allen hier«, sagte Lauga. »Du hast hier nichts verloren.«
»Das wird sich herausstellen«, erwiderte Elínborg. »Vielen Dank für das Essen, es war sehr gut.«
Sie hatte vor, nochmals auf den Friedhof zu gehen. Auf dem Weg dorthin beschloss sie aber, jemand anderem einen Besuch abzustatten. Sie ging zu dem Reihenhaus, in dem Runólfurs Mutter lebte. Sie hörte die Türklingel, dann öffnete sich die Tür. Kristjana erinnerte sich gleich an Elínborg und führte sie ins Wohnzimmer.
»Was willst du denn schon wieder?«, fragte sie und setzte sich auf denselben Sessel wie bei Elínborgs erstem Besuch. »Was willst du hier in diesem Dorf?«
»Ich versuche, Antworten zu finden«, sagte Elínborg.
»Ich weiß nicht, ob du die hier bekommst«, sagte Kristjana. »Das ist ein Kaff, ein elendes Kaff, und wenn ich zu irgendetwas getaugt hätte, wäre ich schon längst über alle Berge.«
»Lebt es sich denn nicht gut hier?«
»Ob es sich hier gut lebt?«, wiederholte Kristjana, die wieder ein Papiertuch in der Hand hielt. Sie wischte sich damit über die Lippen und zupfte dann daran herum. »Hör bloß nicht auf das Lügengewäsch von diesen Leuten.«
»Was sollten sich die Leute denn hier zusammenlügen?« Elínborg erinnerte
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