Frevelopfer
blauen Anorak.
Das Mädchen gab ihr ein Zeichen, ihr zu folgen, bevor es wieder in der Finsternis verschwand. Elínborg zog sich in Windeseile wieder an und ging nach draußen. Sie schloss die Haustür behutsam hinter sich, um die Hausbesitzer in der oberen Etage nicht zu stören. Sie starrte hinaus in die Nacht, ohne etwas zu erkennen. Sie ging um das Haus herum zu ihrem Fenster, aber der blaue Anorak war nirgends zu sehen. Sie traute sich nicht zu rufen. Das Mädchen ging offensichtlich extrem vorsichtig vor und wollte um keinen Preis bemerkt werden. Es lag auf der Hand, dass sie nicht mit Elínborg, der Kriminalbeamtin aus Reykjavík, gesehen werden wollte.
Elínborg war im Begriff, zu kapitulieren und wieder ins Haus zu gehen, als sie sah, dass sich unten an der Straße etwas bewegte. Die Straßenbeleuchtung im Dorf war spärlich, doch als Elínborg ein paar Schritte in die Richtung gegangen war, erkannte sie, dass das Mädchen dort auf sie wartete. Als Elínborg ihr Tempo beschleunigte, lief das Mädchen ebenfalls los, hielt aber kurze Zeit später inne und blickte sich um. Elínborg blieb ebenfalls stehen. Sie war nicht an einem Wettrennen interessiert. Das Mädchen kam auf sie zu, aber als Elínborg ihr entgegenging, wich sie zurück und entfernte sich wieder. Elínborg begriff, dass sie dem Mädchen folgen sollte, und zwar in angemessener Entfernung. Sie ließ sich darauf ein und ging mit einigem Abstand hinter ihr her.
Die Nacht war kalt, ein eisiger Wind blies aus dem Norden und drang durch die Kleidung. Elínborg schauderte und zog den Mantel enger um sich. Der Weg führte sie am Meer entlang, vorbei an den Häusern oberhalb des Hafens, die den Dorfkern bildeten, und weiter in nördlicher Richtung. Elínborg überlegte, wohin dieser Marsch führen und wie lange er dauern würde. Sie hatten sich jetzt ein wenig vom Meer entfernt. Die Straße, der sie nun folgten, führte anscheinend aus dem Dorf hinaus, vorbei an einem großen Haus, das sie für das Gemeindehaus hielt. Über dem Eingang brannte eine Lampe. Nachdem sie das Haus passiert hatten, gab es außer dem Mond keinerlei Beleuchtung mehr. Der Mond allerdings kämpfte gegen gewaltige Wolkenbänke und hatte meist das Nachsehen. Elínborg hörte im Dunkeln das Rauschen eines Flusses, sie überquerten wohl eine Brücke. Danach verlor sie das Mädchen mehrfach aus den Augen. Ihr war entsetzlich kalt, denn der Wind hatte sich inzwischen zu einem ausgewachsenen Sturm entwickelt.
Plötzlich sah sie einen Lichtstrahl vor sich und hielt auf ihn zu. Das Mädchen stand am Straßenrand und hatte eine Taschenlampe in der Hand.
»Muss das wirklich sein«, fragte Elínborg kurzatmig, als sie das Mädchen erreicht hatte. »Kannst du mir nicht einfach sagen, was du mir sagen möchtest? Es ist mitten in der Nacht, und ich komme um vor Kälte.«
Das Mädchen sah sie nicht an, sondern setzte sich wieder in Bewegung. Sie verließ die Straße und schien in Richtung Meer zu gehen. Elínborg folgte ihr. Sie gelangten im Dunkeln zu einer Steinmauer, die Elínborg bis zur Taille reichte. Sie gingen an ihr entlang, bis sie zu einem Tor kamen, das das Mädchen öffnete. Es quietschte leise.
»Wo sind wir?«, fragte Elínborg. »Wohin willst du mich führen?«
Die Antwort darauf sollte sie bald bekommen. Sie folgten jetzt einem schmalen Pfad. Elínborg sah zu beiden Seiten große Bäume. Der Lichtkegel der Taschenlampe fiel auf eine Steintreppe, die anscheinend zu einem Gebäude hinaufführte. Als das Mädchen eine kleine Böschung hinaufging, sah Elínborg im Schein der Taschenlampe ein weißes Kreuz aufleuchten und dann einen behauenen Stein, der umgekippt war. Der Stein trug eine Inschrift.
»Hast du mich auf euren Friedhof geführt?«, flüsterte Elínborg.
Das Mädchen antwortete immer noch nicht, sondern ging noch ein Stück weiter bis zu einem schlichten, weißen Holzkreuz mit einer unscheinbaren Plakette. Auf dem Grab lag ein frischer Blumenstrauß.
»Wer liegt denn hier?«, fragte Elínborg und versuchte, im flackernden Schein der Taschenlampe die Aufschrift zu entziffern.
»Sie hatte vor Kurzem Geburtstag«, flüsterte das Mädchen.
Elínborg starrte auf das Grab. Die Taschenlampe erlosch, und sie hörte Schritte, die sich rasch entfernten. Sie war allein auf dem Friedhof.
Dreißig
Elínborg kam erst spät in der Nacht ins Bett und war trotzdem am nächsten Morgen früh auf den Beinen. Der Wind hatte sich im Lauf der Nacht gelegt. Auf dem Rückweg ins Dorf
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