Frevelopfer
da und weinte. Sie wurde schwermütig und verängstigt. Sie war ein klassisches Beispiel.«
»Was war geschehen?«
»Ein Mann hier aus dem Ort hatte sie auf schändliche Weise vergewaltigt, so schändlich, dass sie nicht imstande war, mit irgendjemandem darüber zu sprechen, nicht mit mir und auch nicht mit jemand anderem.«
»Runólfur?«
»Ja. Es geschah bei einer Tanzveranstaltung im Gemeindehaus. Er lockte Addý hinunter zum Fluss, der ist da ganz in der Nähe. Sie ahnte nichts Böses, sie kannte den Mann ja gut. Die beiden waren in der Volksschule die ganzen Jahre über in einer Klasse gewesen. Er war sich wohl ziemlich sicher, dass sie ein leichtes Opfer sein würde. Nachdem er ihr Gewalt angetan hatte, ging er wieder zurück und tanzte und amüsierte sich, als sei nichts vorgefallen. Später hat er wohl irgendeinem Freund gegenüber angedeutet, was er getan hat, und auf diese Weise verbreitete es sich nach und nach im ganzen Dorf. Nur ich bekam nie etwas davon zu hören.«
»Das war der Anfang«, sagte Elínborg leise wie zu sich selbst.
»Wisst ihr von anderen Frauen, die er vergewaltigt hat?«
»Die Frau, die in Untersuchungshaft ist. Andere haben sich nicht gemeldet.«
»Vielleicht gibt es noch andere Frauen wie Addý«, sagte Valdimar. »Er hatte ihr gedroht, sie umzubringen, falls sie etwas sagen würde.«
Valdimar hörte auf, sich mit dem Schraubenschlüssel in die Hand zu klopfen, sah hoch und blickte Elínborg in die Augen.
»In all diesen Jahren war sie ein gebrochener Mensch. Die Zeit, die seitdem ins Land gegangen ist, hat nichts daran geändert.«
»Das glaube ich sehr gern«, sagte Elínborg.
»Als sie endlich bereit war, mir anzuvertrauen, was sie durchgemacht hatte, war es zu spät.«
Die Geschwister saßen noch lange Zeit stumm in der Wohnung über der Werkstatt, nachdem Addý geendet hatte. Valdimar hielt ihre Hand und strich ihr über das Haar. Er hatte sich neben sie gesetzt, während sie sich alles von der Seele redete, denn je länger sie sprach, desto schwieriger wurde es für sie.
»Es war alles so grauenvoll«, sagte sie leise. »Ich stand oft kurz davor aufzugeben.«
»Weshalb hast du mir nichts davon gesagt?«, fragte Valdimar, der seine Schwester wie vom Donner gerührt ansah. »Warum hast du nicht früher mit mir gesprochen? Ich hätte dir helfen können.«
»Was hättest du denn tun können, Valdi? Du warst noch so jung, und ich war ja selbst auch noch fast ein Kind. Was konnte ich denn tun? Wer hätte uns gegen dieses Scheusal beigestanden? Hätte es etwas genutzt, wenn er ein paar Monate ins Gefängnis gekommen wäre? Das sind keine schwerwiegenden Fälle, Valdi. Nicht in den Augen derer, die darüber richten.«
»Wie hast du das die ganze Zeit in dir verschließen können?«
»Ich habe versucht, damit zu leben. Manche Tage sind besser als andere. Du hast mir unendlich geholfen, Valdi. Es gibt keinen besseren Bruder als dich.«
»Runólfur«, flüsterte Valdi.
Seine Schwester wandte sich ihm zu.
»Tu nichts Verrücktes, Valdi. Ich möchte nicht, dass dir irgendetwas passiert. Sonst hätte ich dir nie etwas gesagt.«
* * *
»Sie hat mir das erst an dem Tag gesagt, an dem sie aufgegeben hat«, sagte Valdimar und sah Elínborg an. »Ich habe sie nur einen Augenblick aus den Augen gelassen, und das hat gereicht. Mir war nicht klar gewesen, dass sie am Ende war, was für eine tiefe Wunde er ihr zugefügt hatte. Abends wurde sie am Ufer unterhalb des Friedhofs gefunden. Nachdem Runólfur meine Schwester vergewaltigt hatte, ging er ziemlich bald nach Reykjavík. Danach kam er nur noch zu Besuch und blieb nie lange.«
»Du brauchst Hilfe, du brauchst einen Rechtsanwalt«, sagte Elínborg. »Ich möchte dich bitten, jetzt nichts mehr zu sagen.«
»Ich brauche keinen Rechtsanwalt«, sagte Valdimar. »Ich brauchte Gerechtigkeit. Ich fuhr nach Reykjavík, um ihn zu treffen, und dabei fand ich heraus, dass er weitergemacht hatte.«
Dreiunddreißig
Die Wirkung trat schneller ein, als Runólfur erwartet hatte, und auf dem Weg zu ihm nach Hause musste er Nína stützen. Es hatte den Anschein, als würde sie besonders stark auf die Droge reagieren. Sie klammerte sich an ihn, und das letzte Stück musste er sie beinahe tragen. Er näherte sich dem Haus nicht über die Straße, sondern durch den Garten, wo ihn niemand bemerken würde. Er machte kein Licht, als sie in die Wohnung kamen, sondern legte sie vorsichtig auf das Sofa.
Er schloss die Tür, ging in die Küche und
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