Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
gilt überhaupt nicht Lecoeur, sondern dem Wesen, von dem der Minister gesprochen hat, dem Hundewolf. Wäre das nicht der richtige Moment für das Untier? Ein Mann, nachts allein, tief im geheimen Lager des Ungeheuers? Worum auch immer es sich handelt, ihm entgehen zu wollen ist aussichtslos. Schon hat es seine ganze Energie, sein ganzes Trachten auf ihn gerichtet. Er schwingt den Spaten, lässt ihn blindlings durch die schwarze Luft sausen, während im gleichen Augenblick eine Stimme ihn andonnert: » Schänder !«
Die Wucht, mit der der Schlag auftrifft, wirft ihn beinahe um. Er stolpert rückwärts, bis seine Schultern gegen die Wand stoßen; dann stemmt er sich gegen die Steine und stößt drei-, viermal wütend nach der Dunkelheit, aber es erfolgt kein zweiter Angriff. Er wartet mit wild gegen seine Rippen pochendem Herzen, dann schleicht er vorwärts, den Spaten wie eine Pike gefällt. Unter seinem linken Schuh das Knacken von zerbrechendem Glas. Er bückt sich, berührt ein Stück verbogenen Draht, eine Scherbe glattes Glas. Eine Brille! Er macht einen weiteren Schritt, erkennt neben einer der Säulen des nächstgelegenen Bogengangs die Form eines Kopfs. Er geht näher heran, senkt das Spatenblatt auf die Brust des Mannes, spürt, wie sie sich hebt und senkt.
»Wer war das?«
Der Ingenieur wirbelt herum, den Spaten zum Schlag erhoben.
»Wen hast du da niedergeschlagen?«
» Lecoeur ?Wo bist du? Ich kann dich nicht sehen.«
»Mach dir darüber keine Gedanken. Ich kann dich ganz deutlich sehen. Meine Augen haben sich völlig an die Dunkelheit gewöhnt.«
»Es war der Priester.«
»Colbert?«
»Ja.«
»Hast du ihn umgebracht?«
»Nein.«
»Und womit hast du ihn geschlagen? Was hast du da in den Händen?«
»Einen Spaten.«
»Ha! Vielleicht hat er dich ja mit mir verwechselt? Andererseits vielleicht aber auch nicht.«
Nach seiner Stimme zu urteilen, ist Lecoeur nicht weiter als vier, fünf Meter entfernt, doch irgendwie scheint er aus der Wand heraus zu sprechen.
»Du hast Jeanne verletzt, Lecoeur.«
»Ach ja?«
»Du weißt es.«
»Und du?«
»Was ist mit mir?«
»Hast du sie nicht auch verletzt? Ihre Bereitwilligkeit missbraucht? Sie zu deinem Geschöpf gemacht? Sie gezwungen, bei der Zerstörung ihres kleinen Paradieses mitzuhelfen?«
Jetzt weiß er es. Lecoeur muss auf einer der Treppen sitzen oder kauern, die zu den Dachkammern hinaufführen. Ein guter Platz, für den er sich da entschieden hat. Leicht zu verteidigen. Selbst am hellichten Tag dunkel. »Ich habe sie nicht vergewaltigt«, sagt er.
»Dann bin ich also ein bisschen schlimmer als du. Bravo. Das ist nur ein gradueller Unterschied, Baratte. Und ich kann dir versichern, sie ist keine Heilige. Ich habe mit ihr unter einem Dach gelebt. Ich kenne sie.«
»Wenn die Männer dich zu fassen kriegen …«
»Die Männer? Was weißt du denn von den Männern? Nichts weißt du.«
»Ich glaube nicht, dass sie dir etwas tun, wenn ich bei dir bin.«
»Du willst mein Beschützer sein? Und was dann? Ein Prozess? Oder schickt man mich zu dem verrückten Mädchen, das dir ein Loch in den Schädel geschlagen hat? Wo ist sie gleich noch mal hingegangen?«
»Ins Dauphiné.«
»Warum hast du mich hierhergeholt, Baratte? Hättest du mich nicht in Valenciennes verrotten lassen können? Bildest du dir etwa ein, du hättest mir geholfen?«
»Dann lass dir jetzt von mir helfen.«
»Idiot! Du kannst dir ja nicht einmal selbst helfen. Sieh dich doch an, wie du da mit deinem Spaten auf einem stinkenden Friedhof stehst und dich fragst, ob du nahe genug an mich herankommst, um mich damit zu treffen. Als du damals ins Bergwerk gekommen bist, warst du sanftmütig. Schüchtern wie ein Mädchen. Als ich dich zum erstenmal gesehen habe, habe ich gedacht … Ich habe gedacht, hier endlich ist ein Mensch, dem ich mein Herz öffnen kann.«
»Dafür ist keine Zeit, Lecoeur.«
»Wir waren Freunde.«
»Das habe ich nicht vergessen.«
»Gab es denn nichts Schätzenswertes an einer solchen Freundschaft?«
»Das Licht wird heller. Viel Zeit bleibt nicht mehr.«
»Das Licht! Ah, ja. Das Licht. Sag mir eins. Wird sie es überleben?«
»Ja. Ich glaube schon.«
»An mir war auch einmal manches Gute«, sagt Lecoeur entschieden. »Lass dir ja nichts anderes erzählen.«
Es folgt ein kurzes Innehalten – eine konzentrierte, wie in einer Muschelschale gefangene Stille –, dann das deutliche mechanische Knacken, mit dem eine Pistole gespannt wird. Der Ingenieur
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