Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Schuppen geführt hat. Beim Geräusch der Bewegung hinter ihm blinzelt er mit seinen trüben Augen, entblößt seine Zahnstümpfe.
»Ich bin es«, sagt Jean-Baptiste. »Der Ingenieur.«
Der Küster gestikuliert. Eine Pantomime, eine stumme Darstellung. Zu Worten ist er längst nicht mehr imstande. Jean-Baptiste nähert sich dem Tisch. Das Gesicht des Mädchens verschwindet zu einem Viertel in der Schwellung über ihrem linken Auge. Ihr Mund … ihr Mund muss wiederholt von etwas getroffen worden sein. Von einer Faust? Einem Stiefel? Irgendeinem Werkzeug? Was sie noch an Wunden hat – und er ist sich sicher, dass es sie gibt –, ist unter der Decke verborgen. Dafür ist er dankbar.
Er beugt sich über sie, flüstert ihren Namen. Das Auge an der Wunde will sich nicht öffnen, das andere jedoch öffnet sich. Es öffnet sich und starrt ihn ausdruckslos an. Er berührt sie an der Schulter; ihr ganzer Körper fährt zusammen. Er zieht die Hand zurück.
»Lecoeur?« fragt er.
Das Auge bestätigt es.
»Er hat dich … angegriffen?«
Und das Auge bestätigt es erneut.
»Ich werde den Arzt holen«, sagt er. »Und ein paar Frauen. Ich werde Lisa holen lassen.«
Das Auge schließt sich. Er geht hinaus. Es scheint deutlich heller geworden zu sein, doch der Dunst ist geblieben und schlingt sich in dicken Strängen zwischen die Gitterstäbe der Beinhausbögen. An der Tür des Hauses lehnt ein Spaten mit herzförmigem Blatt an der Wand. Jean-Baptiste nimmt ihn – der Stiel ist vom Gebrauch glatt gewetzt – und geht auf die Männer zu. Der erste, auf den er trifft, ist der Hochgewachsene, der mit dem fehlenden Fingerglied. Er fragt ihn, ob Monsieur Lecoeur im Beinhaus ist.
»Ja«, antwortet der Bergmann ruhig. Dann, als Jean-Baptiste weitergehen will, berührt der Bergmann ihn am Arm, hält ihn auf. »Er hat eine Pistole«, sagt er.
»Ich weiß«, sagt Jean-Baptiste. Einen Moment lang ist er versucht, den Bergmann zum Mitkommen aufzufordern, wünscht sich die Ruhe und Kraft des anderen neben sich. Dann geht er allein, vorbei an der Werkstatt der Ärzte, bis zum ersten offenen Bogen des Beinhauses. Er geht hinein, in die eisige Stille der darin stehenden Luft, bleibt stehen, dreht lauschend den Kopf. Die Männer draußen haben ihr Lärmen eingestellt. Auch sie lauschen.
Er bewegt sich vorwärts. Unmöglich, sich bei diesem spärlichen Licht geräuschlos über eine solche Oberfläche zu bewegen. Zuviel Schutt. Steinstücke, Knochenstücke. Wer weiß, was sonst noch. Aussichtslos, Lecoeur zu überrumpeln, sich an ihn heranzuschleichen. Er beschließt, sich bemerkbar zu machen.
» Lecoeur !«
Ein Echo, aber keine Antwort.
»Lecoeur! Ich bin’s, Baratte!«
Nichts.
Er geht weiter und verlässt sich dabei ebensosehr auf seine Erinnerung an diesen Ort wie auf seine Augen. Rechts von ihm zeichnen sich die Bogengänge als schwach leuchtendes Blau vor dem fleckigen Schwarz der Galerie ab. So oder so wird Licht der Sache ein Ende machen. Licht wird ihn zur Zielscheibe machen. Licht wird Lecoeur kein Versteck mehr lassen. Und dann? Wenn Lecoeur ihn tatsächlich sehen kann? Er kann sich nur einen Grund dafür vorstellen, dass Lecoeur nicht auf ihn schießen wird: Er hätte dann keine Zeit mehr, seine Pistole neu zu laden, ehe die Bergleute an ihn herankämen.
Er blickt zurück, zählt die Bogengänge ab. Bald wird er bei der Pforte zur Rue de la Ferronnerie angelangt sein, der Pforte, durch die sie die Gebeine zu den Karren schaffen. Ist Lecoeur deshalb hierhergekommen? Um unbemerkt zu der Pforte zu gelangen? Bestimmt gibt es im Haus des Küsters einen Schlüssel dazu. Vielleicht hat er ihn eingesteckt, bevor er Jeanne angegriffen hat, die Flucht geplant, ehe er das Verbrechen begangen hat.
Er packt den Spaten mit einer Hand, tastet mit der anderen nach der Wand, seine Finger streichen über Buchstaben, dann über rauhen Stein, dann, unverkennbar, über den Rand einer Türangel. Er tastet nach dem Eisenring des Türgriffs, dreht ihn, zieht, zieht erneut kräftiger. Die Pforte ist verschlossen. Entweder hat Lecoeur die Kaltblütigkeit, die Geistesgegenwart besessen, hinter sich abzuschließen, oder er ist noch da, auf dem Friedhof, im Beinhaus.
Er will gerade noch einmal rufen – seine Nerven sind das Versteckspiel leid –, als er in der Galerie hinter sich einer Bewegung gewahr wird. Irgend jemand, irgend etwas kommt auf ihn zu, und zwar schnell, mit sicherem Schritt, geradezu leichtsinnig schnell. Sein erster Gedanke
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