Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
Vom Netzwerk:
der Hand übers Gesicht, nimmt von Héloïse seinen Hut entgegen und folgt dann Marie auf den Flur. Er stellt ihr keine Fragen. Inzwischen kennt er sie gut genug, um zu wissen, dass es ihr durchaus zuzutrauen ist, einfach etwas zu erfinden.
    Ein Stockwerk tiefer steht Monsieur Monnard mit schief sitzender Nachtmütze vor der Tür seines Schlafzimmers. »Haben wir denn niemals Frieden?« fragt er heiser, vielleicht unter Tränen. »Meine Frau, Monsieur, meine Frau ist sehr –«
    »Gehen Sie wieder zu Bett«, sagt Jean-Baptiste.
    Im Eingangsflur bewegt sich eine hochgewachsene, hagere Gestalt unruhig im Dunkel. Jean-Baptiste nimmt Marie die Kerze aus der Hand und hält sie hoch.
    »Er kann kein Französisch«, sagt Marie.
    »Natürlich kann er das«, sagt Baptiste, doch als Jan Block hastig zu erklären sucht, was er um halb fünf Uhr morgens hier verloren hat, vermag der Ingenieur ihm nur mit größter Mühe und unter Zuhilfenahme seines kleinen, wenngleich stetig wachsenden Vorrats an Flämisch zu folgen. Auf dem Friedhof hat es einen Unfall gegeben. Ja. Irgendeinen Unfall oder Zwischenfall. Jeanne ist zu Schaden gekommen. Monsieur Lecoeur kümmert sich um sie … oder nein. Monsieur Lecoeur kümmert sich nicht um sie. Monsieur Lecoeur ist vielmehr – was? Weggelaufen?
    »Genug«, sagt Jean-Baptiste, stellt die Kerze auf den Tisch im Flur und geht in Richtung Haustür. »Ich werde selbst nachsehen.«
     
    Draußen über der Straße schwebt ein milchiger Frühmorgendunst, etwas wie die abgestreifte Haut einer Wolke, etwas Feuchtkaltes, Giftiges, das ihre Gesichter mit kleinen Tröpfchen überzieht. Block ist bereits an der Straßenecke. Er blickt zurück, treibt den Ingenieur stumm zur Eile an. »Ich will verdammt sein, wenn ich renne«, sagt Jean-Baptiste, allerdings mehr zu sich selbst als zu Block. Er versucht sich vorzustellen, was für ein Unfall Jeanne mitten in der Nacht zugestoßen sein könnte. Und was Lecoeur angeht, warum zum Teufel sollte er verschwinden? Oder hat Block gemeint, er sei Hilfe holen gegangen? Vielleicht wollte er ja sogar Guillotin oder Thouret suchen gehen. Das wäre eine plausible Erklärung für die Geschichte, doch noch während er das denkt, weiß er, dass die Wahrheit ganz anders aussieht.
    Als sie bei der Friedhofspforte ankommen, steht diese weit offen, doch sobald sie innerhalb der Mauern sind, macht alles einen durchaus normalen Eindruck. Das Feuer am Predigerkreuz brennt wie schon seit Wochen. Die Kirche ist derselbe bizarre Schatten wie immer. Dann sieht er drüben am südlichen Beinhaus die Bewegung von Fackeln, hört das dumpfe Durcheinander von Männerstimmen.
    Block rennt darauf zu. Leise fluchend trabt Jean-Baptiste ihm hinterher. Die Bergleute haben sich auf dem Stück Boden zwischen dem Beinhaus und dem Haus des Küsters versammelt. Block ruft ihnen etwas zu, und sie verstummen, sehen ihn an, schauen an ihm vorbei dem Ingenieur entgegen, dann geht das Reden weiter, lauter jetzt, erregter. Einige zeigen auf das Beinhaus, gestikulieren mit den Händen, schütteln die Fäuste. So hat er sie noch nie erlebt. Block hat er aus den Augen verloren. Er sieht Jacques Everbout, fragt ihn, wo Jeanne ist.
    »Im Haus«, sagt Everbout.
    Im Haus. Natürlich. Wo sollte sie wohl sonst sein? Er nickt Everbout zu, erteilt die vollkommen überflüssige Anweisung, dass die Männer bleiben sollen, wo sie sind, und macht sich dann in Richtung Haus auf. Er hat erst vier, fünf Schritte zurückgelegt, als er plötzlich mit wild schlenkernden Armen auf das schwarze Gras fällt. Er steht auf, sieht nach, worüber er gestolpert ist, tastet mit der Hand danach. Ein Sack mit Kalk, den irgendein Dummkopf achtlos im Gras hat liegen lassen? Dann berührt er Haare, das grobe Pergament von Haut. Er reißt die Hand weg. Eine Leiche! Gott sei Dank allerdings keine frische. Eines der konservierten Mädchen? Guillotins Charlotte? Warum hier ?
    Noch zehn Schritte, und er ist im Haus des Küsters. In der Küche brennt eine Lampe, um die als blauer Nimbus etwas von dem Dunst von draußen schimmert. Jeanne – obwohl zunächst nicht klar ist, dass es sich wirklich um Jeanne handelt – liegt auf dem Küchentisch. Sie ist mit einer Decke zugedeckt. Ihre Augen sind geschlossen. Neben ihr steht ihr Großvater und streicht ihr über die Stirn. Er gibt ein leises, aber schreckliches Geräusch von sich, ein Klagen, wie man es etwa in der Kehle irgendeines Tiers hört, dessen Junges der Bauer gerade zu einem stinkenden

Weitere Kostenlose Bücher