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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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Finger an. »Und der Priester? Gibt es Neues von ihm?«
    »Nein, nichts.«
    »Er ist verschwunden?«
    »Es war noch dunkel, und es gab ein großes Durcheinander. Ich vermute, er ist in der Kirche.«
    »Hat sich verkrochen, wie? Und Sie verspüren keine große Lust, nach ihm zu suchen? Jedenfalls nicht ohne eine Schaufel als Selbstschutz. Ein ereignisreicher Vormittag, den Sie da erlebt haben. Das war bestimmt nicht ganz leicht. Aber der Minister hat zweifellos erkannt, dass Sie ein Mensch sind, auf den man sich in einer solchen Lage verlassen kann.«
    Ein paar Sekunden lang betrachten die beiden den Leichnam auf dem Tisch. Die Augen sind halb geöffnet und verleihen dem zerschmetterten Gesicht den Ausdruck eines Menschen, der sich an etwas zu erinnern versucht. Dann wenden sie den Blick von ihm ab und drehen sich weg, als besäße er keinerlei Bedeutung mehr.

14
     
    HÉLOÏS E KOMM T ZU M Friedhof. Jean-Baptiste hat nicht nach ihr geschickt; sie kommt aufgrund ihrer eigenen Befürchtungen. Sie klopft an die Pforte. Joos Slabbart öffnet ihr. Zwar hat sie schon oft von den Fenstern des Hauses aus auf den Friedhof hinabgeschaut, doch nun steht sie zum erstenmal innerhalb seiner Mauern. Sie hält einen Moment inne, um alles in sich aufzunehmen – das Kreuz, die steinernen Laternen, die Beinhäuser, die Knochenmauern, die Zelte –, dann geleitet Slabbart sie zum Haus des Küsters. Als sie erfährt, was passiert ist, legt sie dem Küster eine Hand auf den Arm, dann nimmt sie Jeannes Schürze von dem Haken an der Treppe. Sie erinnert Jean-Baptiste daran, dass sie in einem Wirtshaus großgeworden ist und dass ihre Eltern trotz ihrer zahlreichen Fehler (darunter der, dass sie sich nicht viel aus ihr zu machen schienen) ihr Geschäft verstanden und dafür gesorgt haben, dass sie es ebenfalls verstand. Sie rafft ihre Röcke, kauert sich vor den leeren Kamin. »Als erstes das«, sagt sie, während ihre langen Finger rasch Anmachholz zusammensammeln.
    Als nächster trifft Monsieur Lafosse ein, zu dessen Büro in Saint-Germain der Ingenieur einen Boten mit einem Brief geschickt hat, sobald er imstande war, seine Gedanken zu ordnen. Der am Küchentisch verfasste Brief war als trockener, beinahe technischer Bericht über die Ereignisse der Nacht gedacht, doch als er ihn vor dem Versiegeln noch einmal durchgelesen hat, ist er ihm eher wie eines jener verstörenden Dramen voller blinder Sterblicher und unversöhnlicher Götter erschienen, in denen er in der Bibliothek des Comte de S- zuweilen an jenen Tagen geblättert hat, an denen es zu nass war, um an der »Staffage« zu arbeiten.
    Er führt Lafosse zum Leichnam von Lecoeur, aber natürlich nicht zu Jeanne, die es wohl kaum beruhigend fände, einen Menschen, der wie der Haushofmeister des Todes anmutet, am Fuße ihres Bettes stehen zu sehen.
    Als sie aus der Werkstatt herauskommen, betupft sich Lafosse mit einem Taschentuch die blutleere Nasenspitze. »Und das Mädchen wird es überleben?« fragt er.
    »Jeanne? Das hat er auch gefragt. Lecoeur.«
    »Und was haben Sie geantwortet?«
    »Ja. Sie wird es überleben.«
    »Dann sehe ich keinerlei Schwierigkeit.«
    »Es wäre mir recht, wenn Sie mir sagten, wie ich weiter verfahren soll.«
    »Wir sind doch hier auf einem Friedhof, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Und wie viele haben Sie schon ausgegraben?«
    »Das kann ich nicht genau sagen. Viele Tausende, denke ich.«
    »Dann dürfte es nicht sonderlich ins Gewicht fallen, einen zu verscharren. Der Saldo wäre immer noch zu Ihren Gunsten.«
    »Ich soll ihn begraben? Auf dem Friedhof?«
    »Begraben Sie ihn, begraben Sie seine Habseligkeiten. Entfernen Sie seinen Namen aus allen Dokumenten, allen Aufzeichnungen. Erwähnen Sie ihn nie wieder.«
    »Lauten so die Anweisungen des Ministers?«
    »So lauten Ihre Anweisungen.«
    Sie gehen zusammen zur Friedhofspforte hinüber. Der Regen hat sich verzogen und hat einer seltsamen, feuchten Wärme, etwas Fiebrigem, Platz gemacht.
    »Ein Maul weniger zu füttern«, sagt Lafosse. »Ein Lohn weniger zu zahlen. So müssten Sie eigentlich etwas zurücklegen können. Das Land ist bankrott, Baratte. Der Minister bezahlt das alles aus seiner eigenen Tasche.« Er lässt den Blick über den Friedhof wandern, auf seinem Gesicht malt sich langsam stärker werdender Ekel. »Wie können Sie das hier ertragen?« fragt er.
    Der Ingenieur öffnet ihm die Pforte. »Ich dachte, ich hätte keine andere Wahl.«
    »Die haben Sie auch nicht. Aber trotzdem …«
    »Man

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