Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
ein kurzes, quiekendes Lachen aus. Im Kerzenschatten wirkt ihr Gesicht wie eine Maske, die sie hastig angelegt hat.
»Es wäre vielleicht am besten«, sagt Jean-Baptiste, »Monsieur Monnard nicht wissen zu lassen, dass Sie sich an seinem Wein vergriffen haben. Dabei weiß nur der Himmel, wie Sie es geschafft haben, sich damit zu betrinken.«
»Sie sind mir einer«, sagt sie. Sie wendet sich Héloïse zu. »Bevor Sie gekommen sind, hat er immer die ganze Nacht mit sich selbst geredet. Murmel, murmel, murmel. Hat die arme Ziguette völlig um den Verstand gebracht.« Sie schnieft.
Héloïse tritt näher und fasst Marie an der Hand.
»Aber wer war das Mädchen?« fragt sie. »Das, das hier nach ihm verlangt hat?«
»Ach, ich habe sie wieder weggeschickt«, sagt Marie. »Er hat ja jetzt Sie, oder?«
»Ja«, sagt Héloïse leise. »Ja.«
Er hatte vorgehabt – hatte, während sie über den Fluss glitten, geplant –, sich die ganze Nacht oder einen Großteil davon nach Herzenslust an seiner Héloïse zu delektieren, doch binnen weniger Minuten, nachdem er ins Bett gestiegen ist (er liegt auf der Seite, sieht ihr beim Auskleiden zu und hört sich ihre Spekulationen darüber an, um wen es sich bei der geheimnisvollen Besucherin gehandelt haben könnte), ist er eingeschlafen und beginnt zum erstenmal seit dem Angriff zu träumen.
Er ist wieder im Theater, geht über den zerschlissenen roten Teppich im Gang hinter den Logen. Er sucht nach der Loge des Ministers. Er hat eine Nachricht für ihn, eine wichtige Nachricht, die er persönlich überbringen muss, aber die kleinen, blankpolierten Logentüren tragen keine Nummern, und es gibt niemanden, den er fragen könnte. Und dann, ganz unvermittelt, wie es Träume so an sich haben, ist da doch jemand, eine schlanke Gestalt, die unter einem Kerzenleuchter an der Wand lehnt … Renard ?Renard der Findling? Er ist nicht zu verkennen. Der magere, in einen Kragen aus schmierigem Fell gehüllte Hals, im Gesicht ein leicht verkniffenes Grinsen. Er verbeugt sich vor Jean-Baptiste, zeigt auf die Tür gegenüber, dreht sich um und eilt den leeren Flur entlang davon. Leise – ohne zu klopfen oder sich sonstwie bemerkbar zu machen – öffnet Jean-Baptiste die Tür und schlüpft hinein. Das einzige Licht ist ein trübes rotes Flackern, als würde im Parkett etwas brennen, aber es reicht aus, um ihm den Minister und Boyer-Duboisson zu zeigen, deren Stühle an der Logenbrüstung nebeneinanderstehen. Haben sie ihn wirklich nicht gehört? Sind sie so gefesselt? Er zieht die Nachricht aus der Tasche. Eine Nachricht mit Gewicht, einer Spitze, einer Schneide. Er tritt hinter den Stuhl des Ministers, legt diesem sanft, aber bestimmt die Hand über die Augen, spürt das Flattern der Augenlider. Jetzt keine Nervosität. Keine Beklommenheit mehr. Er ist ein Junge vom Lande; er hat dergleichen oft genug gesehen; hat mit seinem Bruder dagesessen und dem Schweineschlachter entgegengeblickt, wie er mit seinen Seilen und seiner Zelttuchrolle voller Klingen über die Winterfelder kam. Als er sich an die Arbeit macht, strampelt der Minister mit den Beinen wie ein aufgeregtes Kind …
Noch während er aufwacht, an die Oberfläche seiner selbst kommt, wie an einen Ort geschleudert, der noch verwirrender ist als der Traum, versucht er schon, sich zu erklären, sich zu rechtfertigen. Er starrt auf seine Hände, auf die Laken, doch sie sind vollkommen sauber, absonderlich normal. Héloïse drückt seine Schultern. Blinzelnd schaut er zu ihr auf, noch immer brabbelnd, aber sie hört ihm gar nicht zu. Sie versucht ihrerseits, ihm etwas mitzuteilen, vielleicht ihren eigenen Traum.
»Ruhig«, sagt sie. »Ganz ruhig jetzt, Jean. Komm. Sie warten auf dich.«
Er setzt sich auf. In der Tür steht Marie mit einer Kerze. Sie ist offenbar vollständig angekleidet. Vom Flur her strömt ein kalter, träger Luftzug hinter ihr hervor.
Héloïse reicht ihm seine Hosen. Gehorsam zieht er sie an. Merkwürdig, dass er nicht richtig wachwerden kann. Ist er krank? Liegt es daran? Eine verdorbene Auster im Theater? Das Huhn? Nein. Er fühlt sich nicht krank.
Sie kniet nieder und knöpft ihm die Hosenbeine zu. Er knöpft sich die Weste zu. Seine Uhr liegt neben dem Bett auf dem Boden. Er bückt sich danach, lässt den Deckel aufschnappen.
»Es ist halb fünf Uhr morgens«, sagt er, eine Bemerkung, die eigentlich irgendeine Erklärung hervorrufen sollte, die aber nicht kommt.
»Na schön.« Er steht auf, wischt sich mit
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