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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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gewöhnt sich daran«, sagt Jean-Baptiste.
    In der Abenddämmerung – zwischen Wolken gleitet ein früher Mond dahin – begleitet er Héloïse zur Rue de la Lingerie zurück. Sie hat gekocht und saubergemacht. Sie hat den ganzen Tag geschuftet. Er bedankt sich dafür.
    »Morgen werde ich das gleiche tun«, sagt sie. »Ich werde das gleiche tun, was Jeanne getan hat. Ich werde zum Markt gehen.«
    Er will Einwände erheben – ist es das, was er aus ihr machen wollte, eine Friedhofs-Wirtschafterin? –, doch er weiß, dass er niemand Tüchtigeren, niemand Verlässlicheren finden wird.
    »Ich werde dich bezahlen«, sagt er.
    »Ja, das wirst du«, sagt sie. Sie lächeln in die vor ihnen liegende Düsternis. Das erste Lächeln des Tages.
    Sie gelangen in ihr Zimmer, ohne einem der Monnards oder Marie zu begegnen. Sie entzündet eine Kerze; er entzündet das Feuer.
    »Du gehst wieder dorthin«, sagt sie.
    Er nickt. »Es gibt … noch einiges zu erledigen.«
    »Natürlich.« Sie blickt auf die Kerze, streicht leicht an der Flamme entlang. »Mir ist ein wenig bang davor, dich gehen zu lassen«, sagt sie.
    »Und mir«, antwortet er, »ist ein wenig bang davor, dass ich nie mehr einen Fuß dorthin setze, wenn ich jetzt nicht gehe.«

15
     
    E R HA T SIC H bereits für Grube vierzehn entschieden. Frisch geleert und ausgescharrt, mit daneben aufgehäufter Erde und so weit von den Zelten entfernt, dass eine gewisse Hoffnung auf Geheimhaltung besteht, ist Grube vierzehn der naheliegende Ort.
    Die Küche im Haus des Küsters ist verlassen. Bestimmt ist der Alte oben bei Jeanne. Lisa wird zum Übernachten vermutlich nach Hause zu ihren Leuten gegangen sein. Es ist niemand da, der neugierig sein, Fragen stellen könnte. Er steht in der Tür des Zimmers mit den Kirchenbüchern, einen Moment lang außerstande einzutreten, eingeschüchtert von irgendeinem gespenstischen Nachglanz des Lebens, das es bis vor kurzem bewohnt hat. Dann stürzt er hinein, lüpft Lecoeurs Tasche aufs Bett und beginnt sie rasch mit den wenigen Gegenständen zu füllen, die auszupacken ihr Besitzer sich die Mühe gemacht hat. Ein Paar Schuhe mit kantigen Spitzen. Eine Stutzperücke aus Rosshaar. Ein auf dem Tisch abgelegtes Hemd. Die gestrickte Weste. Zwei Bücher: Rousseaus La Rêverie du Promeneur Solitaire und La Mettries L’Homme Machine. Das leere Tinkturfläschchen. Eine billige Uhr. Das mit einem Band verschnürte Päckchen der Valenciana-Papiere.
    Er sieht auf seine eigene Uhr. Für das, was er vorhat, ist es noch zu früh. Er nimmt L’Homme Machine aus der Tasche und setzt sich damit an den Küchentisch. Er kennt das Buch nicht. La Mettrie ist nicht in freundlicher Erinnerung geblieben. Aus der Provinz stammend wie Jean-Baptiste, ein gerissener Schurke, der daran gestorben ist, dass er sich an Pastete überfressen hat. Nach einem Augenblick schlägt Jean-Baptiste das Buch auf, übersteht fast eine halbe Seite, ehe sich ihm das erste Wort entzieht. Er schaut weg, schaut wieder hin, konzentriert sich. Nichts wird klarer. Er errötet: die alte Scham, die er aus dem Klassenzimmer kennt und mit der er in den letzten Monaten wieder vertraut geworden ist. Dann wird die Scham von etwas Dringenderem weggefegt. Einem Krampf in den Eingeweiden, tief unten links, in den weichen Schlingen. Er lässt nach und kehrt dann um so heftiger wieder, so heftig, dass Jean-Baptiste aufstöhnt. Er stopft sich das Buch in die Tasche, steht von der Bank auf, geht nach draußen und rennt – ungelenk, krumm, wie ein verwundetes Tier – zur geschlitzten Zelttuchwand der Latrinen. Unklug, nachts ohne Licht hierherzukommen! Er packt eine der Stangen, tastet mit der Fußspitze nach dem Loch, einem der Löcher. Hier? Hier wird es gehen: Er kann nicht länger warten. Er streift sich die Hosen herunter (verliert in seiner Hast einen Knopf) und lässt den Dreck aus sich herausspritzen, hört ihn auf den Dreck klatschen, der schon im Loch ist. Ein kurzes Innehalten: Der Körper scheint auf sich selbst zu lauschen; dann ein weiterer Schwall, der ihn im Abgehen fast verbrennt. Er klammert sich an die Stange, die Stirn an das gehobelte Holz gepresst, und wartet keuchend auf den nächsten Krampf. Sie werden Plätze nach uns benennen, hat Lecoeur an jenem Morgen in Valenciennes gesagt, als die Schneeflocken am Fenster entlangstrichen. Nach den Männern, die Paris gereinigt haben!
    Einer von ihnen ist nun tot, mit einer Kugel im Kopf. Einer hängt an einer Stange über einer Pfütze aus

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