Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
ihre Holzschuhe auszuziehen, wenn sie sich im Zimmer über ihm aufhielt. Er war außerordentlich lärmempfindlich.«
»Möchten Sie, dass ich die Miete im voraus bezahle, Monsieur?«
»Sehr geschäftsmäßig von Ihnen. Ich bewundere das bei einem jungen Mann. Dann wollen wir mal sehen. Sechs Livres die Woche, denke ich. Kerzen und Feuerholz nicht eingeschlossen.«
Jean-Baptiste wendet sich leicht von dem Hausherrn ab, schüttelt ein paar Münzen aus dem Beutel auf den Tisch, pflückt einen halben Louisdor heraus. »Für zwei Wochen«, sagt er.
Monsieur Monnard nimmt die Münze entgegen, kerbt sie mit dem Daumennagel und steckt sie in eine Tasche seiner Weste. »Sie sind hier willkommen«, sagt er mit dem Ausdruck eines Menschen, der gerade einem Priester ein Steckgehäuse guter Messer verkauft hat. »Sagen Sie Marie unbedingt, was Sie alles brauchen.«
Ein, zwei Sekunden lang treffen sich die Blicke von Mieter und Dienstmädchen. Dann entzündet sie den Kerzenstummel auf dem Tisch mit der Kerze, die sie mit heraufgebracht hat.
»Wenn Sie morgens Ihre Kerze mit herunterbringen«, sagt sie, »können Sie sie auf dem Bord neben der Haustür abstellen. Dort liegen auch Feuerstein und Stahl.«
»Sie werden kaum von hier weggehen müssen«, sagt Monsieur Monnard und deutet mit dem Kinn auf die Fensterläden, »um Ihre Vermessung vorzunehmen.«
»Ich kann ihn von hier aus sehen?«
»Sie haben noch keine Möglichkeit gehabt, im Viertel umherzugehen?«
»Nein, Monsieur.«
»Nun, bei Tageslicht werden Sie ihn deutlich erkennen können.«
Unter mehrfachem Nicken und Lächeln verabschieden sich die Männer voneinander. Monsieur Monnard und Marie verlassen das Zimmer, ziehen die Tür hinter sich zu. Ganz plötzlich ist Jean-Baptiste allein in einem fremden Haus, in einer Stadt, wo er fast niemanden kennt. Er langt über das Bett nach den Fensterläden, klappt sie auf knirschenden Angeln zurück und beugt sich, als er im Glas nur sich selbst und die Kerze sieht, erneut vor, dreht den ovalen Griff und versetzt dem Fensterrahmen einen leichten Stoß. Jetzt ist nichts mehr zwischen ihm und dem Nachthimmel, nichts mehr zwischen ihm und der Kirche, denn bestimmt handelt es sich bei diesem schwarzen Klotz, der vor dem Osthimmel gerade noch wahrnehmbar ist, um Les Innocents. Und darunter die schwarze Fläche zwischen Kirche und Straße, das ist ganz offensichtlich – denn was kann es sonst sein? – der Friedhof. Wenn er über das Bett klettern und aus dem Fenster springen würde, wäre er mittendrin in diesem Ort, der Paris vergiftet! Jedenfalls vergiftet er die Rue de la Lingerie. Von dem Gestank, der sich durch das offene Fenster hereinstiehlt, hat er bereits etwas im Atem sämtlicher Monnards, im Geschmack ihrer Speisen gerochen. Er wird sich daran gewöhnen müssen, rasch daran gewöhnen oder verschwinden müssen, die Kutsche nach Hause nehmen, dem Comte de S- dienen, um eine weitere Brücke betteln …
Er schließt das Fenster, legt die Läden vor. Die Kerze auf dem Tisch wird nicht mehr lange reichen. Er löst die Riemen um seine Truhe, wühlt darin, zieht eine Ausgabe des zweiten Bandes der Histoire Naturelle des Comte de Buffon heraus, dazu ein langes Messinglineal, ein kleines Kästchen mit Schreibgeräten, eine Schatulle aus Rosenholz, die einen Messingzirkel enthält. Eingewickelt in ein Wollhemd ist sein Kupferstich von Canalettos Blick auf die Rialtobrücke. Er sucht nach einem Nagel in der Wand, findet einen über dem leeren Kamin, hängt das Bild auf und steht eine Zeitlang davor, um es zu betrachten.
Er legt seine Uhr neben den Buffon auf den Tisch, steckt den Geldbeutel unter das Kopfkissen, hängt seine Perücke auf die Stuhllehne und zieht sich bis auf Hemd und Strümpfe aus, die er beide anbehalten wird, um es wärmer zu haben. Es gibt kein Wasser, nichts, womit er sich waschen könnte. Er schlüpft unter die Decke, denkt kurz und mit Unbehagen an den rothaarigen Musiker, der vor ihm hier geschlafen hat, bläst dann die blakende Kerze aus und liegt in einer Dunkelheit, die so tief ist, dass sein vollkommen nutzloses Augenlicht seltsame Formen, seltsame Phantasien hervorbringt. Er schließt die Augen – Dunkelheit auf beiden Seiten! – und beginnt nach kurzer Zeit nicht ein Gebet, sondern einen Katechismus der Selbstvergewisserung zu sprechen.
»Wer bist du? Ich bin Jean-Baptiste Baratte. Woher kommst du? Aus Bellême in der Normandie. Was bist du? Ein Ingenieur, ausgebildet an der Ecole des Ponts.
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