Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
sich von dem Organisten zur Orgelbank führen, hört ihn wie von der anderen Seite der Wand aus sagen, auch ihm sei es anfangs so ergangen und er habe die Kirche nur mit einem in Eau de Cologne getränkten und vor das Gesicht gedrückten Tuch betreten können.
»Ich habe mich darüber verwundert, wie Menschen weniger als einen halben Tagesritt von diesem Ort entfernt leben können. Und dennoch tun sie es, wie Sie sehen. So zahlreich wie die Bienen. Man gewöhnt sich daran. Versuchen Sie, durch den Mund zu atmen. Der Geschmack ist leichter zu ertragen als der Geruch.«
»Ich bin auf der Suche nach Manetti«, sagt Jean-Baptiste.
»Dem Totengräber? Sie haben ja wirklich etwas vor. Aber keine Sorge. Manetti ist der am einfachsten zu findende Mann von ganz Paris. Lassen Sie uns an die Luft gehen. Sie können uns beiden ein Glas von etwas Stärkendem kaufen.«
Auf den Arm des Organisten gestützt – es geht wirklich nicht anders –, kehrt Jean-Baptiste zu der Tür in der Nordwand zurück. Nicht, dass er der Kirche die ganze Schuld zuschieben kann. Es war eine wenig erquickliche Nacht, das ganze Haus war in Unruhe, als bliese ein stürmischer Wind, obwohl das nicht der Fall war. Er hat sich eingebildet, weiteres Kratzen an der Tür und zu irgendeiner unchristlichen Zeit sogar ein Kratzen am Fenster zu hören. Und dann, in aller Frühe, stand im Wohnzimmer der Monnards Lafosse mit den Schlüsseln zur Kirche in der Hand. Und jenes Gesicht bot auch keinen Trost …
Als sie draußen auf der Straße stehen, die Tür geschlossen und versperrt ist und Jean-Baptiste seinen Füßen, seiner Kraft wieder trauen kann, wenden sie sich nach links in Richtung Rue de la Lingerie, dann nach rechts in Richtung Markt. Etwa alle zehn Schritte wird der Organist von irgendwem, meist einer Frau, gegrüßt. Bei jeder Begegnung streift das jeweilige Augenpaar kurz den jungen Mann neben ihm, den neuen Begleiter.
»Dort drüben«, sagt der Organist und deutet mit dem Arm darauf, »können Sie gut und billig essen. Da an der Ecke flickt man Ihnen die Kleider, ohne sie zu stehlen. Und das da ist Gaudets Laden. Rasiert einen gut, kennt jeden. Und hier … hier ist die Rue de la Fromagerie, wo man hingeht, wenn man etwas anderes einatmen möchte als den Duft von Gräbern. Nur zu. Füllen Sie sich die Lunge.«
Sie haben das eine Ende einer merkwürdigen, verstopften Ader von einer Straße betreten, die eher Gasse als Straße, eher Gosse als Gasse ist. Die oberen Stockwerke der Gebäude neigen sich zueinander hin, so dass zwischen ihnen nur ein schmaler Streifen weißer Himmel bleibt. Auf beiden Seiten der Straße ist jedes zweite Haus ein Laden, und jeder Laden verkauft Käse. Manchmal auch Eier, manchmal auch Milch und Butter, immer jedoch Käse. Käse in den Fenstern, auf Tischen und Handkarren ausgelegter Käse, auf Stroh getürmter Käse, an Schnüren hängender oder in Bottichen mit Salzlake schwimmender Käse. Käse, der mit einem Messer geschnitten werden muss, das groß genug ist, um einen Stier zu schlachten, Käse, der mit geschnitzten Holzlöffeln geschöpft werden muss. Rot, grün, grau, rosa, reinstes Weiß. Jean-Baptiste weiß bei den meisten nicht, um was für Sorten es sich handelt oder woher sie kommen, doch einen erkennt er sofort, und ihm geht das Herz auf, als hätte er ein ihm teures Gesicht von zu Hause erblickt. Pont-l’Evêque! Normannisches Gras! Normannische Luft!
»Möchten Sie kosten?« fragt die junge Verkäuferin, aber sein Interesse hat sich schon dem Stand nebenan zugewandt, wo eine Frau im roten Umhang gerade ein rundes Stück Ziegenkäse mit in Asche gewälzter Rinde kauft.
» Das «,sagt der Organist und beugt sich über Jean-Baptistes Schulter, »ist die Österreicherin. So genannt wegen ihrer Ähnlichkeit mit unserer geliebten Königin. Und ich spreche nicht nur von ihren blonden Haaren. He, Héloïse! Darf ich Ihnen meinen Freund hier vorstellen, dessen Namen ich leider vergessen habe und der von Gott weiß wo gekommen ist, um unser aller Leben auf den Kopf zu stellen.«
Sie zählt gerade kleine Münzen für den Käse ab. Sie schaut zu ihnen herüber, zuerst auf Armand, dann auf Jean-Baptiste. Errötet er? Ihm ist, als hätte er sie stirnrunzelnd gemustert. Dann wendet sie den Blick ab, nimmt ihren Einkauf und entfernt sich durch die Menge.
»Die Frauen hier hassen sie«, sagt Armand, »teils weil ihre Ehemänner sie für eine Stunde kaufen können, hauptsächlich aber, weil sie nicht hierherpasst,
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