Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
alte Orgel ist dem wirklich nicht mehr gewachsen. Für andere Stücke, die verzogenes Metall und altes Leder weniger beanspruchen, nimmt er sich ab und zu einen Träger vom Markt, damit er den Blasebalg betätigt, oder den großen, stummen Jungen, der sich in der Rue Saint-Denis herumtreibt. Dann wird Les Innocents fast in den Wahnsinn getrieben, die Messingadler, die zerschlissenen Fahnen, die Millionen von Gebeinen in den Krypten, das alles bekommt ein paar Minuten lang gewaltsam so etwas wie Leben eingehaucht. Das ist seine Aufgabe – es gibt keinen anderen Grund zu spielen: Es kommt keine Gemeinde zusammen, es werden keine Messen gelesen, keine Trauungen gefeiert und schon gar keine Beerdigungen abgehalten. Aber solange er spielt und solange der Priester, dieser abgezehrte alte Soldat Christi, hier herumgeistern darf, so lange behält Mutter Kirche ihren Anspruch auf Les Innocents, einen Anspruch, den sie, wie Ansprüche überall, gegen einen handfesten Vorteil eintauschen kann.
Er spielt Oktavsprünge, moduliert wie rasend, die kreideweißen Finger tanzen auf der Jagd nach Couperins Hirschkalb über die Tasten, als er hört – das kann doch nicht sein! –, wie die Tür in der Nordwand geöffnet wird. Der Priester, wenn er die Kirche überhaupt einmal verlässt, kommt und geht auf andere Weise, aber wenn es nicht Père Colbert ist, wer dann?
Er dreht sich auf der Bank herum, schaut mit zusammengekniffenen Augen bis zu der Stelle, wo in der offenen Tür zur Rue aux Fers ein Mann steht. Ein Mann, ja, ein junger Mann, aber der Organist, der die meisten Gesichter im Viertel kennt, kennt ihn nicht.
»Kann ich Ihnen helfen, Monsieur?«
Der Eindringling verhält mitten in der Gehbewegung. Er dreht den Kopf, will sehen, woher die Stimme kommt.
»Sehen Sie die Pfeifen? Gehen Sie darauf zu. Gleich sehen Sie mich … Ein Stückchen noch … Noch ein Stückchen … Da! Ein Wesen aus Fleisch und Blut, genau wie Sie. Ich bin Armand de Saint-Méard. Organist an der Kirche der Unschuldigen.«
»Ein Organist? Hier?«
»Da ist die Orgel. Da ist der Organist. Es gibt wirklich keinen Grund, sich zu wundern.«
»Ich wollte Sie nicht –«
»Und Sie, Monsieur? Mit wem habe ich die Ehre?«
»Baratte.«
»Baratte?«
»Ich bin der Ingenieur.«
»Ah! Sie sind gekommen, um die Orgel zu reparieren.«
»Zu reparieren?«
»Sie hinkt, musikalisch gesprochen. Ich tue, was ich kann, aber …«
»Ich bedaure, Monsieur … Ich verstehe nichts von Orgeln.«
»Nein? Dabei ist es die einzige Maschine, die wir haben. Ich würde meinen, Sie sind am falschen Ort, aber wie ich sehe, haben Sie einen Schlüssel in der Hand. Hat der Bischof Sie geschickt?«
»Der Bischof? Nein.«
»Wer dann?«
Nach kurzem Zögern nennt Jean-Baptiste mit leiser Stimme den Namen des Ministers.
»Man hat also endlich doch etwas mit uns vor«, sagt der Organist.
»Ich bin hier, um –«
»Pst!«
Hoch über ihnen, auf dem schmalen Laufgang des Triforiums, das Geräusch schlurfender Füße. Der Organist zieht Jean-Baptiste in den Schutz eines Pfeilers. Sie warten. Nach kurzer Zeit verklingt das Geräusch. »Père Colbert«, flüstert der Organist. »Unwahrscheinlich, dass er einem Ingenieur, den der Minister schickt, mit Wohlwollen begegnet. Eigentlich auch unwahrscheinlich, dass er überhaupt jemandem mit Wohlwollen begegnet.«
»Ein Priester?«
»Alt, aber kräftig wie ein Ochse. Er war schon Missionar in China, als Sie und ich noch gar nicht auf der Welt waren. Ich habe sogar gehört, er sei dort gefoltert worden. Man habe etwas mit seinen Augen gemacht. Das Licht bereitet ihm Schmerzen. Er trägt eine getönte Brille. Sieht durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort. Ein aufbrausendes Temperament …«
Jean-Baptiste nickt und sagt nach einem kurzen Blick auf den rötlichen Schimmer im Haar seines Gegenübers: »Waren Sie das, der bei den Monnards gewohnt hat?«
»Bei den Monnards? Und woher, Monsieur, wollen Sie so etwas wissen?«
»Man spricht dort noch von Ihnen.«
» Sie sind jetzt dort? In dem kleinen Zimmer mit Blick auf den Friedhof?«
»Ja.«
»Sieh an, sieh an. Ha! Ich würde sagen, dort oben ist es jetzt kalt.«
»Ganz recht.«
»Ein kleiner Rat. Wenn Sie im Bett liegen, schauen Sie an die Decke. Sie werden dort ein kleines – Oh, oh. Obacht, mein Lieber. Ist Ihnen nicht wohl?«
Während Jean-Baptiste dem Trommeln seines Herzens lauscht, geht ihm auf, dass er seit Betreten der Kirche versucht hat, den Atem anzuhalten. Er lässt
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