Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
könnte er weiß Gott genug Schwarzpulver herstellen. Aber eine Kirche mitten in der Rue Saint-Denis? Theoretisch konnte man ein Gebäude natürlich auch implodieren lassen: es unterminieren und in einer Wolke aus Staub und Steintrümmern fein säuberlich zusammenstürzen lassen. In der Praxis jedoch – nun ja, er hat noch von keinem einzigen erfolgreichen Beispiel gehört. Vor fünf, sechs Jahren gab es jenen Fall in Rom, irgendeine alte Basilika, die man rasch loswerden wollte. Man füllte die Krypten mit Fässern voll Schießpulver, legte die Zündschnüre, zündete sie an, zerstörte die Basilika und den größten Teil der benachbarten Mietskaserne. Zweihundert Männer, Frauen und Kinder wurden zerfetzt. Die Fenster des Vatikans zum Beben gebracht. Er kann sich nicht erinnern, was aus dem Ingenieur geworden ist. Arbeitet er noch? Hat man ihn aufgehängt?
Bei Les Innocents wird er methodischer, prosaischer vorgehen müssen. Das Blei, die Dachziegel abtragen, Sparren und Pfetten absägen und in den Kirchenraum fallen lassen. Die Kirche verschwinden lassen, vergleichbar einem langsamen Vergessen. Sind die Pfeiler massiv, oder haben sie einen Kern aus Schutt? Und die Fundamente? So nahe beim Fluss könnte das ganze Ding auf Schlick schwimmen.
Er wird mit Manetti reden müssen. Und Jeanne. Wenn die Kirche abgerissen wird, so wird auch das Haus zerstört werden. Und wenn das Haus abgerissen wird, dann muss er, wie er es einmal versprochen hat, etwas Neues für sie und den Großvater finden. Blei und Ziegel, mit Umsicht verkauft, müssten mehr als genug einbringen, um einen alten Mann und seine Enkelin zu versorgen, sie auf Jahre zu versorgen.
Und wie geht es ihr, dem jungen Mädchen, dessen Vergewaltiger er bei ihr im Haus untergebracht hat? Guillotin sagt ihm, sie habe auf dem linken Auge etwas von ihrer Sehkraft eingebüßt, gesunde ansonsten jedoch rasch. Obwohl die Sache mittlerweile fast zwei Monate her ist, achtet er darauf, nicht mit ihr allein zu sein. Er weiß noch, wie sie in der Nacht, in der sie auf dem Küchentisch lag, vor seiner Berührung zurückgeschreckt ist. Und er will lange genug warten, damit nicht jedesmal, wenn sie allein sind, Lecoeur blutig und grinsend bei ihnen sitzt. Wenn er allerdings noch länger wartet, ergibt sich vielleicht ein anderes Problem, das ebenso schwer zu ignorieren ist. Lisa Saget sagt, Jeanne sei schwanger, jedenfalls hat sie das Héloïse gegenüber behauptet. Es steht noch nicht fest. Noch fehlt es an eindeutigen Beweisen, und Jeanne selbst hat sich niemandem anvertraut. Allerdings ist schwer vorstellbar, dass eine Frau wie Lisa Saget sich täuschen kann. Ahnt ein Kind, unter welchen Umständen es gezeugt worden ist? Es gibt viele, die das glauben.
Er neigt den Kopf, um Héloïse anzusehen, deren Haar sich weich auf dem Kissen türmt. Irgendwann in der Nacht hat sie leise Geräusche von sich gegeben, ein Dutzend abgerissener Worte aus einem Traum geäußert, die einen gekränkten, vorwurfsvollen Ton hatten, doch nun ist sie in jenem reinen, letzten Schlaf vor dem Aufwachen, und ihr Atem ist nicht lauter, als es das langsame Hin- und Herstreichen einer Fingerspitze auf dem Leinen wäre.
Sind die Pfeiler massiv, oder haben sie einen Kern aus Schutt? Schwimmt das ganze Ding auf Schlick?
Die Abendsonne zwischen den Schulterblättern, so dass sich ihre Schatten auf den Steinen vor ihnen kräuseln, gehen er und Armand die Rue de la Verrerie entlang. Von der Verrerie in die Roi de Sicile, dann in die Saint-Antoine und von dort aus ein fünfminütiger Gang in Richtung Bastille, wo auf einem Turm schlaff eine königliche Fahne hängt. Die schmale Rue de Fourcy entlang, vorbei an den Mauern des Konvents, dann wieder rechts in die Rue de Jardin … Dies ist das Viertel Saint-Paul. Hier gibt es Steinmetze: Ein Blinder würde das erkennen. Armand und der Ingenieur bleiben vor der offenen Tür einer Werkstatt stehen. In der warmen Luft davor flirrt Steinstaub. Nach dem Licht auf den Straßen ist es in der Werkstatt tintendunkel. Armand tritt als erster ein, stolpert über ein Stapelbrett, flucht laut. Das Hämmern hört auf. Ein stämmiger Mann in Schürze und weißer Mütze tritt aus der Tintenschwärze hervor, um sie zu betrachten. Jede Falte und Fläche seines Gesichts ist mit Steinstaub bedeckt.
»Sie sind?« fragt er.
»Baratte«, sagt Jean-Baptiste. »Ingenieur in Les Innocents. Ich möchte Meister Sagnac sprechen. Ich habe mich angekündigt.«
»Und ich bin der
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