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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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ein Mann einen anderen wegen einer solchen Angelegenheit umbringt. Überall werden Frauen ungestraft beleidigt, von Männern beleidigt. Wenn einige, wie der Aufseher, für ihre Unverschämtheit büßen müssen, dann haben sie es vielleicht nicht anders verdient.
    Was die Monnards angeht, so sind sie zwar für Gerüchte nicht unempfänglich und haben gewiss auch das ungewöhnliche Kommen und Gehen auf dem Friedhof beobachtet, doch ihre Phantasie ist vielleicht weniger erregbar, weniger üppig als die ihrer Nachbarn, zumal sie nach wie vor die Erinnerung an eine andere, frühere Nacht ablenkt, eine Katastrophe, die ihnen viel nähergegangen ist. Sie haben deshalb gar nicht wissen wollen, warum sie in jener Nacht von einem der Friedhofsarbeiter geweckt worden sind, der an die Tür hämmerte, oder was der Knall kurz vor Tagesanbruch zu bedeuten hatte, ein Geräusch, wie wenn in einem Sturm ein Baum umknickt. Der einzige heikle Augenblick hat sich beim Essen in der Woche nach Ostersonntag ergeben, als Madame Monnard – offenbar in aller Unschuld und Aufrichtigkeit – sich erkundigt hat, ob der charmante Monsieur Lecoeur sie nicht wieder einmal besuchen wolle. Jean-Baptiste hat nur stumm auf den Bodensatz in seinem Suppenteller starren können. Es ist Héloïse überlassen geblieben zu sagen, dass Monsieur Lecoeur nach Hause gerufen worden sei. Nach Hause? Ja, Madame, ganz unerwartet. In Familienangelegenheiten? In dringenden Familienangelegenheiten, Madame.
    Die ganzen ersten Maiwochen hindurch, während die neuen Blätter sich entfalten, die ersten Schmetterlinge aus ihrer Verpuppung kriechen und kleine Blumen sich hartnäckig durch Ritzen in rauchgeschwärzten Mauern zwängen, ist sich Jean-Baptiste bewusst, dass er wartet. Worauf, weiß er nicht. Vielleicht auf die Ankunft von Lecoeurs Schwester, zornig, verängstigt, verwirrt. Oder auf das plötzliche Erscheinen irgendeines unerbittlichen Amtsträgers, einer Person, vor der ihn nicht einmal der Minister schützen kann. Überraschend oft muss er sich daran erinnern, dass nicht er Lecoeur, sondern dass Lecoeur sich selbst umgebracht hat. Das ist die Wahrheit. Müsste sie nicht überzeugender, beruhigender wirken?
    Am zweiundzwanzigsten, dreiundzwanzigsten und vierundzwanzigsten des Monats leidet er unter heftigen Kopfschmerzen, wie er sie seit dem Schlag auf den Kopf nicht mehr erlebt hat. Ein gefaltetes Tuch über den Augen, liegt er in Ziguettes früherem Zimmer, auf Ziguettes früherem Bett und ballt immer wieder die Fäuste. Auf seiner Brust sechzehn Meter Erde und Kalk, die ihn erdrücken. Dann löst sich der Schmerz in dem üblichen Brechanfall. Er spült sich den Mund aus, trinkt ein wenig, greift nach seinem Hut und taumelt aus dem Zimmer.
     
    In der Stadt ist es mittlerweile heiß. Noch ein, zwei Stunden nach Sonnenuntergang strahlen die Steine eine stetig pulsierende Hitze aus. Auf dem Friedhof wollen die Männer mehr Wasser zu ihrem Schnaps, brauchen es. Sie arbeiten im Hemd. Schon am Vormittag klebt ihnen der Stoff am Rücken. Die Arbeit geht langsamer vonstatten. Schwalben und Mauersegler spielen im Blau über den Beinhäusern. Den ganzen Winter lang, so scheint es, haben sie an etwas festgehalten, einer Entschlossenheit, die die Hitze nun aus ihnen heraussaugt. Der Ingenieur spürt es so sehr wie alle anderen, ja noch stärker. Ein Verlangen, es gut sein zu lassen, damit fertig zu sein. Um es zu kaschieren, treibt er die Männer an, geht ruhelos am Rand der Gruben auf und ab, redet mehr, schreit mehr. Wenn der Mann am Flaschenzug mit einer Knochenlast zu kämpfen hat, legt er sich selbst mit ins Seil. Wenn sie eine Schalung anbringen müssen, steigt er auf den Grund der Grube hinab, um die Arbeit zu leiten. Nachts wacht er über das Beladen jedes Karrens, pendelt zwischen Straße und Friedhof, spricht mit den Fuhrleuten, sogar mit den jungen Priestern, die immer noch nervös zur Pforte schauen und darauf warten, dass Colbert auftaucht, obwohl Colbert schon seit Wochen von niemandem mehr gesehen worden ist.
     
    Aus einer plötzlichen Regung heraus, wie er es bei sich selbst nennt, obwohl es sich vielleicht um den bloßen Drang handelt, irgend etwas zu bekennen, erzählt er Héloïse von seiner Wortblindheit. Es ist ein Sonntagnachmittag, die beiden knien, ein wenig empfindlich um die Lenden, auf dem Bett, sein Samen glänzt auf ihrem Bauch, die zu zwei Dritteln geschlossenen Läden tauchen ihre Körper in Schatten. Es ist ohnehin schwer, es vor ihr oder

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