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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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Rollen.«
    Sagnac nickt. »Für Ausländer arbeiten Ihre Männer recht gut.«
    »Es sind nicht alle Ausländer«, sagt Jean-Baptiste. »Aber es stimmt, es sind gute Arbeiter.«
    »Es ist in jedem Fall eine Heidenarbeit«, sagt Sagnac und beäugt den jungen Ingenieur, mustert ihn, als sähe er ihn in der dünnen Luft zum erstenmal.
     
    Die Luft in der Kirche gleicht stehendem Wasser. Kühl, abgestanden. Nachdem er vom Gerüst herabgestiegen ist, geht der Ingenieur mit Armand und vier Bergleuten hinein. Der Steinmetz ist irgendwo über dem südlichen Querschiff. Vom Boden der Kirche aus ist vom Dach überhaupt nichts zu sehen; man muss sich alles vorstellen. Sie recken den Hals, warten, reiben sich den Nacken und blicken erneut auf. Ein gedämpfter Schlag ruft ein plötzliches Knarren unsichtbarer Flügel hervor. Dem ersten Schlag folgt eine lange Reihe weiterer, die jeweils zwei Sekunden auseinanderliegen.
    »Das müsste Colbert eigentlich wecken«, sagt Armand.
    »Falls er hier ist«, sagt Jean-Baptiste.
    »Ach, der ist schon hier.«
    »Wovon lebt er?«
    »Von Wachs. Liturgie. Seinen eigenen Daumen.«
    Ein Bergmann tritt zurück, wischt sich etwas vom Gesicht. »Herabrieselnder Staub«, sagt Jean-Baptiste. »Tretet ein Stück zurück.«
    Das Hämmmern klingt inzwischen weniger gedämpft. Nach kurzem Innehalten beginnt es erneut, ein Doppelschlag, schwerer zu lokalisieren. »Sind sie direkt über uns?« fragt Armand.
    »Nein, nein. An dem Rand dort. Sie werden versuchen, zwischen den Balken unten an der Rinne durchzukommen.«
    Etwas schlägt auf den Bodenplatten auf. Kein Staub mehr. Immer mehr davon fällt herunter, fällt mit jedem Hammerschlag. Bröckchen von Mörtel, von Stein. Dann etwas Großes, das sieben, acht Meter vor ihnen herunterkracht und zerbirst. Der Doppelschlag geht in einen Dreifachschlag über. Ba-ba-bang, ba-ba-bang, ba-ba-bang. Dann eine halbe Minute Stille; dann zwei Schläge, wohlgezielt und bedacht, als hätten sie am Drachenhaupt irgendeine ungeschützte Stelle, etwas Nachgiebiges entdeckt. Ein weiteres großes Stück kommt herunter. Die Gruppe unten zieht sich zurück. In der Schwärze, der Schwärze, zu der sie von unten hinaufstarren, blinzelt etwas. Ein kleines weißes Auge, klein und fast zu hell zum Anschauen.
    »Sie sind durch!« sagt Armand. Ein Hagel von Schlägen, und das Auge erweitert sich. Ein Strahl wirbelnden Lichts fällt schräg vom Dach bis zum Boden und bricht sich nicht an einem vergoldeten Engel oder Gipsheiligen, sondern am Stiefel eines Bergmanns, der einen Sprung nach hinten macht, als hätte er sich daran verbrannt.
    Scheu greifen sie danach, nach dem Licht, in dem sie ihre Hände betrachten. Noch ein Dutzend Schläge von oben, und sie können die Brust, dann den ganzen Körper darin baden. Héloïse muss das sehen, denkt der Ingenieur. Héloïse, Jeanne … alle müssen sie es sehen.
    »He, da unten!« ruft eine Stimme. Sagnac. Sein Kopf so klein wie eine Münze.
    Der Ingenieur tritt ins Licht, späht nach oben. »Wir sind hier«, ruft er. Es ist eine merkwürdige Art von Unterhaltung. Vielleicht hat Adam so mit Jahwe gesprochen. »Irgendwelche Probleme?«
    »Als würde man ein Schneckenhaus zerbrechen. (»Haus zerbrechen …« singt das Echo.) »Die Balken sind durch und durch verfault. Noch zwanzig Jahre, und die Kirche wäre von allein eingestürzt!« Der Kopf verschwindet.
    »Ich werde spielen«, sagt Armand, der die Finger ineinander verschränkt und die Knöchel knacken lässt. »Zwei von den Burschen können die Blasebälge betätigen.«
    »Ist das der richtige Zeitpunkt zum Spielen ?« fragt Jean-Baptiste. Dann: »Sie haben recht. Sie haben noch nie so recht gehabt.«
     
    Eine halbe Stunde später, während Armand auf der Orgel improvisiert, führt der Ingenieur einen Rundgang durch das Licht an. Héloïse drückt seinen Arm. Der Küster blickt auf, blinzelt mit den Augen wie ein Gefangener, der fünfzig Jahre lang in einem Verlies eingekerkert war, irgendeinem feuchtkalten cachot , wie es sie angeblich in der Festung der Bastille gibt. Lisa befeuchtet sich die Lippen, öffnet das Gesicht wie eine Blume.
    Guillotin sagt leise: »Aber das ist ja Philosophie.«
    Jeanne beginnt stumm zu weinen. Zunächst will sie das Licht nicht berühren. Jean-Baptiste – der Augenblick erlaubt es ihm – nimmt sie bei der Hand. Sie zuckt nicht zurück. Er hebt die Hand, und als das Licht darauf trifft, scheint ihre Haut – die Haut beider Hände – von einem fragilen

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