Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
erkennen, was genau er geschafft hat – Mondlicht ist trügerisch –, aber plötzlich kann er es nicht mehr ertragen, weiterzumachen. Er lehnt den Spaten an die Wand, bückt sich, packt Lecoeur, legt ihn neben das Loch und wälzt ihn hinein. Die Tasche kommt neben seine Füße. Weder Tasche noch Körper liegen sonderlich tief, aber das müssen sie auch nicht. Morgen wird er die ganze Grube mit Erde und Kalk füllen lassen. Sechzehn Meter: Das ist tief genug für jeden. Er kniet einen Moment lang neben dem Loch, schöpft Atem, streckt in einer beinahe verstohlenen Geste die Hand aus und berührt den Toten an der Schulter. Dann steht er auf, nimmt erneut den Spaten zur Hand und beginnt rasch, ihn zuzuschaufeln. Zuerst die Beine, dann den Rumpf. Zum Schluss das Gesicht.
Teil 4
Nichts geht verloren, nichts wird geschaffen,
alles wird verwandelt.
Antoine Lavoisier
1
SI E GRABE N – GRABE N und verfüllen wie Menschen, denen es an Erfindungskraft fehlt, etwas anderes zu tun. Grube vierzehn bekommt ihre sechzehn Meter Erde und Kalk. Im nächsten Armengrab, genau in der Mitte des Friedhofs, sind die Gebeine so dicht aufeinandergeschichtet, dass man sie wie Reisigbündel nach oben reichen kann. Die Toten wundern sich nicht mehr darüber, uns zu sehen, denkt der Ingenieur, während er im Frühlingsgeniesel am Grubenrand steht. Wo einmal selbst die nacktesten Knochen entrüstet schienen, eingeschüchtert wie ein Mann oder eine Frau, die man ohne Kleider auf die Straße stößt, liegen sie nun duldsam da wie Bräute und warten darauf, dass die Hände der Bergarbeiter sie ans Licht von Paris heben. Der letzte Trumpf! Die Vorausgegangenen, die Übergangenen, wiederversammelt von bärtigen Engeln, die Tonpfeifen rauchen. Das bringt ihn – beinahe – zum Grinsen. Arme, leichtgläubige Schädel, die sich einbilden, das Warten im Dunkeln wäre vorbei!
Bis zum Ende des Monats haben sie neunzehn Armengräber ausgeräumt – fast die Hälfte von denen, die Jeanne im vorigen Herbst bezeichnet hat. Das zwanzigste Grab wird in der ersten Maiwoche in Angriff genommen, und während sie in einer Tiefe von acht Metern an einem warmen Vormittag daran arbeiten (ein Amselpaar pickt Würmer aus der Erde neben der Grube), kommt Jeanne aus dem Haus, ihr erster Gang ins Freie seit dem Angriff. Sie hat sich bei Lisa Saget untergehakt und wirkt wie vom Sonnenschein halb geblendet. Ein paar Schritte hinter ihnen geht Héloïse mit umgelegter Schürze, in einer Hand ein Fleischbeil, die andere erhoben, um sich die Augen zu beschatten. Die Männer oben an der Grube hören zu arbeiten auf. Jan Block auf seinem Posten an der Knochenmauer wirkt vollkommen fassungslos, und zum erstenmal kommt Jean-Baptiste der Gedanke, dass der Bergmann verliebt ist, wirklich und wahrhaftig verliebt. Und wäre er angesichts des Vorgefallenen die schlechteste Partie, die Jeanne machen könnte? Er würde keine Erklärungen brauchen, weiß alles, was er wissen muss. Mag sie ihn? Oder ist ihr der Gedanke, noch einmal von einem Mann berührt zu werden, widerwärtig, unmöglich? Der Ingenieur hebt grüßend die Hand. Sie winkt müde zurück.
Auf den Straßen, den kleinen Plätzen, zwischen den Marktbuden, die so dicht gedrängt stehen wie die Waben in einem Bienenkorb, schwirren immer noch reichlich Gerüchte darüber, was in jener Märznacht geschehen ist. Einige der Bergleute müssen trotz ausdrücklichen Verbots mit ihren Huren geredet haben, denn binnen einer Woche nach Lecoeurs Tod wissen alle Bescheid, wissen, dass er erschossen wurde, wissen ohne den Hauch eines Zweifels, dass der Ingenieur mit den grauen Augen – einige von ihnen haben an jenem Abend in der Rue Saint-Denis miterlebt, zu was für Wutanfällen er neigt – derjenige gewesen sein muss, der den Abzug betätigt hat. Das leuchtet ein; sie sind schließlich nicht dumm. Warum er es getan hat, ist allerdings weniger sicher. Die Bergleute, scheint es, haben ihre Zunge besser im Zaum gehalten, als es darum ging, Jeannes Namen zu erwähnen. Infolgedessen lautet die bevorzugte Erklärung, dass der Ingenieur den Aufseher bei einer Auseinandersetzung über die Geliebte des Ingenieurs, die Österreicherin, erschossen hat. Vielleicht hat der Aufseher sie als das bezeichnet, was sie ist, und dafür mit seinem Leben bezahlt. Das ist natürlich monströs, brutal, und doch sind die Frauen des Viertels – deren Urteil bestimmt abschließende Gültigkeit besitzt – nicht ganz und gar dagegen, dass
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