Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
blauen Feuer umgeben.
Im Lauf der folgenden Tage wird entlang der Südwand eine Reihe von Löchern eingeschlagen. Die Luft trübt sich von Staub, der sich nachts jedoch setzt oder verzieht. Lichtstrahlen breiten sich aus, bis einzelne Lichtbündel einen gezackten Rand bilden, der sich langsam nach Norden in Richtung Rue aux Fers schiebt. Am Ende des Monats leckt Licht am Rand des Hauptschiffs, streift den Chor, sammelt sich am Fuß des Altars. Wie verdreckt unten alles nun erscheint! Wie sehr der Ort auf seine Dunkelheit angewiesen war! Die Bänke – die meisten so vom Holzwurm zerfressen, dass es gefährlich wäre, darauf zu sitzen – werden unter der Vierung zu einem großen Haufen aufgetürmt. Nun, da das Licht da ist, wird deutlich, dass alles, was einen Wert – einen Geldwert – besitzt, bereits entfernt worden ist, offiziell oder sonstwie. Zusammen mit Armand sucht der Ingenieur eine Stunde lang nach der berühmtesten Reliquie der Kirche, der eisernen Schatulle mit dem Zehenknochen des Säulenheiligen, aber sie ist nirgendwo zu finden, und irgend etwas, etwas Pantomimenhaftes an der Art, wie sein Freund danach sucht, veranlasst Jean-Baptiste zu der Frage, ob er sie etwa gestohlen hat.
Armand bejaht. »Es ging darum, Mittel für das Waisenhaus aufzutreiben«, sagt er.
»Stimmt das?« fragt Jean Baptiste.
Armand zuckt die Achseln.
Ein Ruf von oben bedeutet, dass etwas Großes herunterkommt – ein Aufschiebling, eine Windrispe, ein Hammerbalken aus Eichenholz, der sich in den Schutt darunter bohrt. Oder Stein, etwas, das sich löst und dann wie ein Geschoss auf den Bodenplatten zerbirst.
Die Hälfte der Bergleute sind mit Abrissarbeiten in der Kirche beschäftigt. Sie haben Vorschlaghämmer, Spitzhacken und Eisenstangen, und sie gehen, wie es scheint, mit einer gewissen sektiererischen Lust an die Sache heran. Die anderen arbeiten auf dem Dach oder bedienen die Flaschenzüge, die Lasten aus geborgenen Ziegeln und abgekantetem Blei hinunterbefördern. Jean-Baptiste kommt sich allmählich wieder wie ein Ingenieur vor. Stein, Staub und verrottetes Holz sind nach schwarzer Erde und Knochen mehr als erträglich. Und hat die Zerstörung nicht etwas, was süchtig macht? Befriedigt sie nicht irgendein dubioses Gelüst, irgendeinen jungenhaften Drang, ein stumpfes Werkzeug gegen etwas stumm und dumpf Vorhandenes zu schwingen?
Er schreibt an seine Mutter: »Ich bin dabei, eine Kirche zu zerstören!« Er legt den üblichen Geldbetrag bei und schlägt – nur halb im Scherz – vor, sie könne ja das Geld dazu verwenden, nach Paris zu kommen und ihn zu besuchen, ihren Sohn, der mit aufgekrempelten Ärmeln und staubverkrustetem Gesicht einen Steinelefanten in die Knie zwingt. Vielleicht würde der Pastor sie gern begleiten?
Den letzten Gedanken streicht er aus. Streicht ihn sorgfältig aus.
In einer der Seitenkapellen, einer von denen, die der Lichteinfall schlicht und profan macht, stellt er das Bücherregal fertig. Eine freistehende Konstruktion mit fünf Borden, für die er Holz aus der Kirche verwendet, hauptsächlich Rückenlehnen und Sitzflächen von Bänken (den wenigen, die der Holzwurm nicht heimgesucht hat), doch oben bringt er eine geschnitzte Tafel aus dem Retabel an, kleine Figuren, Apostel vielleicht oder einfach nur ein paar jener Schaulustigen, wie sie wohl immer am Rand wundersamer oder schrecklicher Ereignisse herumstehen. Gäste bei der Hochzeit von Kanaa, Dorfbewohner, die dem Einzug von Herodes’ Soldaten zusehen. Héloïse füllt drei Borde mit Büchern, die sie bereits besitzt. Ein Nachmittag bei Ysbeau unten am Fluss – beide wahren den Anstand, lassen die Vergangenheit ruhen – füllt den größten Teil des vierten, und bei den neuen Büchern handelt es sich durchweg um gute Ausgaben, nicht die für fünfzehn Sous, die einem in den Händen auseinanderfallen.
Überall in der Stadt tauchen in jenen Hochsommertagen frische Inschriften in schwarzer Farbe auf.
Neben der Kirche Sainte-Marie in der Rue Saint-Antoine: » BECHE WIRD EINEN BISCHOF FRESSEN UND SEINE KNOCHEN AUSSPUCKEN. EINEN KARDINAL ZUM NACHTISCH. «
Am Quai de l’Horloge, unterhalb der Conciergerie. Von einem Boot aus angeschrieben? » M. BECHE WIRD DIE REICHEN IM SCHWEISS DER ARMEN ERSÄUFEN! «
Auf einer Mauer gegenüber der Ostindienkompanie: » BECHE HAT EURE VERBRECHEN ERKANNT! BALD BEKOMMT IHR DIE RECHNUNG PRÄSENTIERT. «
Am Geländer – in Südrichtung links – des Pont-au-Change: » BLUTSAUGENDE
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