Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
sehen, dass er vollkommen nackt ist. Seine Augenlider flattern, springen auf. Er zeigt den Gesichtsausdruck eines Menschen, der sich beim Aufwachen im Griff von Teufeln sieht, die ihn in einen glühenden Ofen schleudern.
Eine weitere Explosion. Die Bänke und Balken von Slabbarts Scheiterhaufen beginnen sich in der Hitze zu winden. Slabbart selbst ist hinter Flammenwänden verborgen, die sich oben immer näher an den offenen Himmel heranwerfen. Und Teile des Chors haben Feuer gefangen, die Flammen fädeln sich durch die schmalen Holzbögen. Zweimal, den hin- und herschwingenden Priester zwischen sich, überspringen Armand und Jean-Baptiste breite Linien sich schlängelnden Feuers. Der Himmel sei ihnen gnädig, wenn die Bergleute die Türen verbarrikadiert haben! Aber die Türen sind nicht verbarrikadiert, der Weg ist frei. Draußen wanken sie bis zu den Zelten. Es ist niemand da. Sie lassen Colbert ins Gras fallen, wischen sich die Hände am Gras ab, würgen sich den Rauch aus der Kehle. Ist schon Alarm geschlagen worden? Durchs Westfenster sind die Flammen deutlich zu sehen und müssen inzwischen auch durch die Fenster in der Rue Saint-Denis wahrnehmbar sein.
Jean-Baptiste schaut sich nach dem Bergmann in Weiß um, aber es ist Block, den er als ersten sieht, Jan Block, der Jeanne und Manetti vom Haus wegscheucht. Er läuft zu ihnen, zieht den Hausschlüssel aus der Tasche, drückt ihn Block in die Hand. »Bring sie in die Rue de la Lingerie. Sag den anderen dort, sie sollen warten. Du wartest auch dort. Wenn das Feuer nahe kommt, führst du sie zum Fluss. Verstanden?«
Block nickt.
Jeanne sagt: »Sie müssen auch mitkommen!«
»Ich werde bald kommen«, sagt Jean-Baptiste. »Geht jetzt.«
Sie hält ihm die Finger hin. Einen Moment lang ergreift er sie. »Verzeih mir«, murmelt er, ist sich jedoch nicht sicher, ob sie es gehört hat. Er sieht ihnen nach, wie sie sich entfernen, der Bergmann, der Alte, das schwangere Mädchen, sieht die Zerbrechlichkeit ihrer kleiner werdenden Gestalten. Es ist, denkt er, wie Anfang und Ende jeder jemals erzählten Geschichte.
Wie lange ist es her, seit sie die Kerzen auf den Holzstoß geworfen haben? Zehn Minuten? Eine halbe Stunde? Schon stößt das Feuer schauerliche Laute aus, ein Stöhnen und Surren und Zischen. Welche Brennstoffe hat es an diesem Ort entdeckt? Welche entzündlichen Atmosphären haben sich in den Krypten gebildet und nur auf einen Funken gewartet? Phlogiston! Das geheime Feuer jedes Gegenstandes, geweckt und freigesetzt! Im Westfenster beginnen die Rauten aus Glas zu bersten. Zuerst vereinzeltes Knallen, dann eine Salve.
Und endlich eine Glocke! Das dringliche, unregelmäßige Läuten einer Glocke. Von Saint-Josse? Saint-Merri? Er rennt zur Pforte auf die Rue aux Fers, hinaus auf die Straße. Massenhaft Menschen hier, die keine Alarmglocke brauchten. Sie laufen in ihren Nachtgewändern durcheinander, einige rufen, andere wenden die verzerrten Gesichter stumm der Kirche zu, wieder andere sind offenbar fröhlich, wie bei einem Volksfest. Er rempelt sich durch die Menge, schwankt darin hin und her. Jetzt wäre es nützlich, etwas größer zu sein, aber er kann den Bergmann in Weiß sehen, kann ihn auf dem Rand des italienischen Brunnens stehen sehen, eine Hand auf dem Kopf eines steinernen Tritons, die andere gestikulierend, seine Kollegen, seine Brüder lenkend. Ab und zu schauen sie zu ihm hin – Musiker zum Kapellmeister –, aber sie scheinen schon zu wissen, was sie tun müssen. Sie drängen die Menge zurück, schieben sie von den Mauern weg, bilden einen Kordon. Einige haben Werkzeug in den Händen, selbstgebaute Hippen, mit denen sie brennende Trümmer niederreißen können. Diese Vorbereitungen haben nichts Planloses. Ihre Disziplin hat nichts Nachlässiges. Mit Feuer kennen wir uns aus , hat der Bergmann gesagt. Das ist etwas, worüber wir Bescheid wissen. Ist das die erste, die zweite, die dritte Kirche, die sie niedergebrannt haben? Und was außerdem noch? Eine Manufaktur? Ein Schloss?
Von unten beleuchtet, quillt der Rauch als schmutzig orangefarbener Strom durch das Kirchendach. Mit dem Blick folgt er ihm nach oben, sieht, wie er sich im Aufsteigen westwärts biegt … Ostwind! Nicht stark, aber vielleicht stark genug. Käme der Wind von Westen, würden die Flammen mit Leichtigkeit die Rue Saint-Denis überspringen. So hat das Feuer – wenn der Wind die Richtung beibehält – nur den Friedhof vor sich. Den Friedhof, die Beinhäuser.
Weitere Kostenlose Bücher