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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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Natürlich auch die Rue de la Lingerie, obwohl es bestimmt nicht so weit kommen wird. Und wenn doch? Kann er sich darauf verlassen, dass Block tut, was nötig ist? Er hat größeres Vertrauen in Héloïse und Lisa, kann sich keinen Notfall vorstellen, der solche Frauen überfordern würde.
    Er sieht sich nach Armand um, aber der Mann neben ihm in der Menge ist nicht Armand. Er deutet in den Himmel, wo taubengroße Funken an den Ziegeln vorbeistieben. Funken, die Tauben sind – Tauben oder was auch immer für blinde Geschöpfe an ihren Schlafplätzen festhielten und nun, verzweifelt und in Flammen stehend, klägliche Fluchtversuche machen. »Menschenseelen!« ruft der Mann. »Menschenseelen!«, und er packt wie in einer Art Verzückung Jean-Baptistes Arm. Der Ingenieur entwindet sich seinem Griff, drängt sich nach vorn durch, erzwingt sich einen Durchgang zwischen zwei Bergleuten (Rave und Rape, für die er vielleicht noch nicht jede Autorität, jedes Ansehen eingebüßt hat). Er rennt durch die offene Friedhofspforte. Er ruft nach Armand, rennt, ruft erneut, mit immer heiserer Stimme, und bekommt endlich Antwort aus der Richtung des Küsterhauses. Sie müssen auch dort Feuer gelegt haben. Die Ziegel qualmen bereits, und hinter einem der Fenster im ersten Stock flackert Flammenlicht. Armand entfernt sich im Laufschritt vom Haus. Licht schimmert in seinem roten Haar. In den Händen hält er irgendeine Trophäe. Eine glitzernde grüne Flasche.
    »Ich wusste, dass noch eine davon übrig war«, sagt er und bleibt stehen, um sich den Rauch aus der Lunge zu husten. »Wenn ich allerdings noch viel länger gebraucht hätte, sie zu finden …«
    Er zieht den Korken heraus, nimmt einen tiefen, verliebten Schluck aus der Flasche. »Auf die Partei der Zukunft«, sagt er. Er wischt sich die Lippen, reicht Jean-Baptiste die Flasche. Der Ingenieur nimmt sie, trinkt und zeigt dann mit dem Flaschenhals über Armands Schulter. »Das Gras brennt«, sagt er.
    Es stimmt. Hunderte brennender Halmspitzen zwischen Kirche und Predigerkreuz, jede Spitze eine zarte Blume, die nur ein, zwei Sekunden lang blüht. Es ist überraschend schön. Schwer, den Blick davon abzuwenden.
    Hinter ihnen, im Schatten des Feuers, beginnt der alte Priester zu heulen, nackt wie ein Wurm.

3
     
    EI N MAN N – weder alt noch jung – sitzt in einem Flügel des Schlosses von Versailles in einem Vorzimmer. Er ist allein, sieht nur seine eigene schwarze Gestalt im trüben Grün der Spiegel. Diesmal sitzt ihm kein eleganter Fremder in dem schmalen Lehnstuhl gegenüber. Aber es ist wieder Oktober, und darin liegt genügend Symmetrie.
    Die Tür zum Büro des Ministers am Ende des Zimmers ist geschlossen (auch darin liegt Symmetrie). Wenn nicht bald ein Bedienter mit gelben Augen herauskommt, um ihn vorzulassen, wird er anklopfen oder daran kratzen und seinen Bericht abliefern, die dreißig ordentlichen, von einem Band zusammengehaltenen Seiten, die auf seinem Schoß liegen und – mit vielen notwendigen Auslassungen – die Zerstörung der Kirche und des Friedhofs der Unschuldigen schildern.
    Mit der Hand glättet er das Deckblatt des Berichts, streicht irgendeine eingebildete Unvollkommenheit, vielleicht ein paar Ascheflöcken, herunter. Sehr lehrreich, wieviel ein Dokument enthalten kann, das so unverfänglich, so harmlos anmutet wie eine gefaltete Serviette! Ein Jahr Gebeine, Friedhofserde, unablässige Arbeit. Mumifizierte Leichen und psalmodierende Priester. Ein Jahr, anders als alle, die er bisher erlebt hat. Jemals erleben wird? Ein Jahr mit Vergewaltigung, Selbstmord, plötzlichem Tod. Auch mit Freundschaft. Verlangen. Liebe …
    Was den Brand angeht, der allem ein Ende gemacht hat, so wird er auf den letzten fünf Seiten des Berichts abgehandelt, die, als Jean-Baptiste schließlich dazu kam, nicht so schwer zu schreiben waren, wie er befürchtet hatte. Ein paar eingestreute Lügen darüber, wie und wann er den Brand bemerkt hat, ein paar fadenscheinige Vermutungen zu der Frage, was ihn ausgelöst haben könnte. Danach eine kurze Schilderung des Feuers selbst: dass es bis Tagesanbruch gebrannt, dass es die Kirche so vollständig wie nur denkbar zerstört, das Haus des Küsters zerstört, die Beinhäuser (mit Ausnahme des westlichen) vernichtet, zwei Häuser in der Rue Saint-Denis und eines in der Rue de la Ferronnerie beschädigt habe, wenn auch keines irreparabel. Überflüssig zu berichten – denn welches Interesse konnte der Minister daran haben? –,

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