Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
des Atems. Die kleine Marie dagegen …«
»Das Dienstmädchen?«
»Da rede ich natürlich nicht von Heirat.«
»Sie? Und Marie?«
»Arme Mädchen aus dem Faubourg Saint-Antoine sind Freidenkerinnen. Maries Verstand mag so leer sein wie das Grab des Erlösers, aber sie ist moderner, als es die Monnards jemals sein werden. Vielleicht sogar moderner als Sie. Seien Sie nicht gekränkt. Wie auch immer, ich hätte nicht übel Lust, mich selbst um Ihre Modernisierung zu kümmern. Das Projekt ist mir gerade in den Sinn gekommen.«
»Und wenn ich der Ansicht bin, dass ich keine Belehrung brauche?«
»Von einem Kirchenorganisten? Genau so eine Haltung werden wir ausrotten müssen, wenn wir Sie für die Zukunft gewinnen wollen. Für die Partei der Zukunft.«
»So eine Partei gibt es?«
»Sie hat keinen Treffpunkt, kennt keine Mitgliedsbeiträge, und dennoch gibt es sie ebenso gewiss wie Sie oder mich. Die Partei der Zukunft. Die Partei der Vergangenheit. Vielleicht bleibt nicht mehr viel Zeit, um zu entscheiden, auf welcher Seite Sie stehen. Ich finde, wir sollten damit anfangen, dass wir Ihre Kleidung ändern. Verspüren Sie eine besondere Neigung zu Braun?«
»Haben Sie an meinem Anzug etwas auszusetzen?«
»Gar nichts. Wenn Sie zur Partei der Vergangenheit gehören. Ich werde Sie mit Charvet bekannt machen. Er wird wissen, was bei Ihnen zu tun ist. Charvet ist modern.«
»Und was ist Charvet? Ein Schriftsteller?«
»Ein Schneider.«
Verärgert, verwirrt, beschwipst, setzt Jean-Baptiste ein Gesicht auf, von dem er hofft, dass es Verachtung ausdrückt, aber der Organist ist wieder dazu übergegangen, die anderen Gesichter im Kaffeehaus zu mustern. Als er damit fertig ist, sagt er: »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen einzuwenden, das hier zu bezahlen. Und dann müssen wir irgendwo hingehen, wo wir etwas essen können. Nichts ist beginnender Freundschaft abträglicher als Schnaps auf leeren Magen.«
In den Galerien, auf dem Hof, geht das Drängeln, das Rufen, das Hutlüften, das Heben von Augenbrauen, das endlose Verfolgen von irgend etwas weiter, ohne jedes Anzeichen dafür, dass es jemals an Intensität einbüßen wird. Ist das modern? Und diese Menschen, bilden sie die Partei der Zukunft oder die der Vergangenheit? Weiß man immer, zu welcher Partei man gehört? Kann man sicher sein? Oder ist es, denkt der Ingenieur, wie bei der Religion seiner Mutter – einigen ist Erlösung, anderen Verdammnis bestimmt, aber man hat keinerlei Gewissheit darüber?
Sie wühlen sich durch die Menge (müssen mal zur Seite ausweichen, mal stehenbleiben oder gar ein Stück zurücktreten), als Armand abermals Jean-Baptistes Ärmel packt und ihn durch das Portal von Salon Nr. 7 lotst. In der Eingangshalle sitzt eine enggeschnürte Frau auf einem Hocker hinter einem Tisch, der bis auf eine kleine Blechbüchse und eine Glocke leer ist.
»Sie müssen ihr vier Sous geben«, sagt Armand. Jean-Baptiste gibt ihr vier Sous. Sie läutet die Glocke. Ein Mann mit rosarot gefärbter Perücke erscheint, hält einen rosaroten Vorhang zur Seite. Offensichtlich ist er mit Armand schon gut bekannt. Sie verbeugen sich voreinander wie Höflinge, obwohl das Ganze nur eine Farce ist.
»Heute nur Zulima«, sagt Armand.
»Wie Sie wünschen«, sagt der Mann.
»Dieser Herr«, sagt Armand und deutet mit dem Daumen auf Jean-Baptiste, »kommt von irgendwo in der Normandie. Eines Tages wird er der bedeutendste Ingenieur Frankreichs sein.«
»Gewiss«, säuselt der Mann. Er geht ihnen voran durch einen sanft erleuchteten Flur. Zu beiden Seiten verhüllen schwere Vorhänge vermutlich die Eingänge zu Zimmern, die letzten jedoch sind nachlässig zugezogen worden, und Jean Baptiste, der kurz stehenbleibt, erblickt flüchtig einen Mann, die Teilansicht eines Mannes, einen nackten Arm und ein nacktes Bein, die an ein Karrenrad gefesselt sind, ein Gesicht mit dichtem Bart und ein großes, in wildem Starren weit aufgerissenes Auge. Wen soll das darstellen? Damiens? Damiens, der den König mit einem Federmesser geritzt hat und dessen darauf erfolgte Hinrichtung auf der Place de Grève einen halben Tag dauerte? Den man aufs Rad flocht und mit Messern schnitt, dem man Blei in die Wunden goss und von Pferden die Gliedmaßen aus den Gelenken reißen ließ, obwohl sie es, sosehr man sie auch peitschte – die armen, unschuldigen Tiere –, erst schafften, als der Henker dem Sterbenden einige Muskeln durchtrennte. Tausende, hieß es, hätten an jenem Tag von den
Weitere Kostenlose Bücher