Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
nicht hierhergehört. Wäre sie drüben im Palais Royal, würde niemand mit der Wimper zucken. Den Palast haben Sie wohl schon gesehen?«
»Ich habe davon gehört, war aber nie –«
»Sie sind mir vielleicht einer, mein Lieber! Sie sind wie einer von Montesquieus Persern. Ich werde in der Zeitung über Sie schreiben. Eine wöchentliche Kolumne.« Er schreitet voraus und setzt, während sie unter den Strebepfeilern von Saint-Eustache vorbeikommen, zu einem lauten, launigen, improvisierten Vortrag über die Geschichte des Palais an: dass es einmal der Garten von Kardinal Richelieu gewesen sei, dass der Duc d’Orléans es seinem Sohn geschenkt und dieser es mit Kaffeehäusern, Theatern und Läden gefüllt habe, dass es stets voller Menschen und überaus elegant und das größte Bordell von Europa sei …
Er ist immer noch dabei, es zu beschreiben, als sie bei dem Gebäude selbst, bei einem seiner vielen Eingänge, ankommen, einem Durchgang, der nicht breiter ist als die Rue de la Fromagerie, und durch ihn werden sie in einen Hof mit Arkaden gedrängt, in dessen Mitte gerade unter johlendem Gelächter eine Marionettenvorstellung zu Ende geht. Jean-Baptiste scheint es so, als ließe man die Puppen miteinander Unzucht treiben. Als er genauer hinsieht, erkennt er, dass es tatsächlich so ist.
»Die Polizeistreifen kommen niemals hierher«, sagt der Organist. »Der Herzog macht ihnen kleine Geschenke, und sie suchen sich eine andere Beschäftigung. Unzüchtiges Puppenspiel ist noch das geringste.«
Wer sind diese Leute? Übt keiner von ihnen ein Gewerbe, einen Beruf aus? Ihre Bewegungen, ihre Kleidung, der Lärmpegel, das alles lässt an Karneval denken, dabei ist keinerlei Zentrum, keinerlei wahrnehmbare Struktur zu erkennen. Alles geschieht scheinbar spontan, ist die fortwährende Selbsterfindung des Augenblicks.
»Kommen Sie«, sagt der Organist, zupft Jean-Baptiste am Ärmel und nötigt ihn auf die Tür eines Kaffeehauses zu, das ein Stück weit in einer der Galerien liegt. »Wir versuchen da drin unser Glück.«
Drinnen herrscht ein ebenso dichtes Gedränge wie draußen, aber der Organist bekommt dank einem wohlkalkulierten, an einen Kellner gerichteten Gruß bald einen kleinen Tisch mit zwei ramponierten Rohrstühlen. Er bestellt Kaffee, eine Schale süßen Rahm, zwei Gläser Schnaps. Die Gäste sind ausschließlich männlichen Geschlechts und größtenteils jung. Alle sprechen mit voller Lautstärke. Ab und zu liest jemand aus einer Zeitung vor oder klopft ans Fenster, um einen vorbeikommenden Bekannten auf sich aufmerksam zu machen, vielleicht irgendeine Frau, die er anfeixen möchte. Die Kellner – kleine, hochkonzentrierte Männer – navigieren auf eng gewundenen Pfaden zwischen den Stuhllehnen. Eine Bestellung wird gerufen und mit kaum wahrnehmbaren Nicken bestätigt. Zwei Hunde gehen einander an die Gurgel, werden von ihren Besitzern geprügelt und wieder unter die Tische gescheucht. Jean-Baptiste zieht seinen Mantel aus (schwierig genug bei dieser Beengtheit). Das Kaffeehaus ist der wärmste Ort, an dem er seit Wochen gewesen ist. Heiß, verqualmt, leicht feucht. Als sein Schnaps kommt, trinkt er ihn aus reinem Durst.
»Besser?« fragt der Organist. Sein Glas ist ebenfalls leer. Er bestellt zwei weitere. »Sie dürfen mich Armand nennen«, sagt er. »Allerdings überlasse ich das Ihnen.«
Nun, da sie einander gegenübersitzen und er sich tatsächlich besser fühlt, kann Jean-Baptiste ihn genauer in Augenschein nehmen, diesen Armand, zumal der Organist die nervöse Angewohnheit hat, an ihm vorbei auf sämtliche anderen Gesichter im Kaffeehaus zu schauen. Weder trägt er eine Perücke, noch sind seine Haare gepudert: Bei solchem Haar hätte Puder wenig Sinn. Seine Kleidung – sie wirkt teuer, wenn auch eher aus der Entfernung als aus der Nähe – folgt keiner Mode, die Jean-Baptiste kennt. Hosen, gestreift und eng getragen wie eine zweite Haut. Eine Weste, halb so lang wie seine eigene, und ein Rock mit derart breiten Aufschlägen, dass die Spitzen beinahe über die Schultern hinausragen. Eine Krawatte aus meterweise grünem Musselin. Wenn er trinkt, muss er sie von seinem Mund, seinen ins Lilafarbene spielenden Lippen fernhalten.
»Sie haben nicht damit gerechnet, einen Organisten in der Kirche vorzufinden«, sagt Armand, während sein Blick zu Jean-Baptiste zurückkehrt. »Eigentlich bin ich der Musikdirektor.«
»Sind Sie schon lange da?«
»Seit achtzehn Monaten.«
»Dann sind Sie ernannt
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